Ein Hundstag

Ich sitze auf dem Balkon unserer Stadtwohnung. Die nackten Füsse auf dem warmen Boden. Die angenehme Wärme des Steinbodens halten die Füsse fast liebend am Boden fest. Wärme scheint zu verbinden und anzuziehen. Der Balkonboden ist vielleicht nur ein klein wenig wärmer als die gefühlte Wärme in meinen Füssen. Sie macht aber den Eindruck meiner Füsse breiter. Bei den Fersen spüre ich einwenig Schmerz. Vielleicht Reste vom Schmerz des Tages, den ich durchlaufen habe. Ein Arbeitstag ist ja auch fast wie eine Wanderung, äusserlich zwar relativ eintönig und alltäglich, aber innerlich, besonders wenn der Arbeitsalltag in einer psychiatrischen Klinik stattfindet, eine aufregende Reise mit ungewissen, teilweise auch aufwühlenden und gefährlichen Begegnungen.
Mika hechelt fast ununterbrochen. Mit seinem sibirischen Pelz ist ihm die Wärme, die jetzt auch noch 8 Uhr abends herrscht, eine enorme Belastung. Keine Wärme, die verbindet, eher eine, die ihn wegjagt, um einen einsamen Ort zu finden, der einigermassen kühl ist, auch wenn es tief unten im Keller sein sollte. Trotzdem kommt er ab und zu heraus auf den Balkon und schaut durch die Gitterstäbe in das Häusertal des Blumenweges hinunter. Dieses Tal in der Stadt wirkt momentan eher unbelebt. Man hört fliessendes Wasser aus einem Wasserschlauch und feines Spritzen aus einer Giesskanne. Der Himmel fällt langsam in die Nacht. Er ist ganz ruhig und klar, und die Sonne strahlt immer dunkler. Ab und zu höre ich noch das Ziepen der Mauersegler, die den Himmel von den Mücken bereits abgeerntet haben, und sich jetzt langsam in die Nacht zurückziehen. Eine raue Stimme eines Mannes, der entweder telefoniert oder seine Frau auf einem Balkon beschwatzt. Und natürlich ab und zu das auf- oder abbrausende Motorengeräusch von an- oder abfahrenden Autos oder Motorräder in den labyrinthischen Quartierstrassen. Die Welt ist gross; das Leben ist gross. Es ist so gross, dass es mich umfängt und hält und mich schützen könnte wie eine riesige Kirche, wenn ich mich ihm nur anvertrauen würde und einwenig darauf verzichten, zu glauben, ich müsste es kontrollieren. Das Leben ist wie eine Kirche, in die einzutreten, einen den Glauben und die Hoffnung kostet. Die Unmöglichkeit und Absurdität und Ohnmacht, das Erleben auch nur annährend zu beschreiben, fällt mich zwischendurch an wie ein wildes Tier. Sie lösen keine Lähmung aus wie früher oder einen Anfall von narzistischer Überheblichkeit; jetzt ist es eher ein Wundern, das ich da sein lassen kann, ein Erstaunen über diese gewaltige Kraft und Mächtigkeit. Die Geräusche werden dann gleichsam zur Haut Gottes und berühren mich so intim wie die Wärme des Steinbodens meine Füsse und tragen und halten mich im freien Fall des Bewusstseins.

Bild: Das Meer Gouache auf Papier, 1993

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