Innerer Frieden

Wenn du morgens keinen Kaffee brauchst,
wenn du immer fröhlich bist und keine Schmerzen dich plagen,
wenn du es schaffst, nie zu jammern und andere mit deinen Problemen zu langweilen,
wenn du dafür Verständnis aufbringst, dass deine Lieben keine Zeit für dich haben,
wenn du Kritik und Vorwürfe ohne jeden Ärger annehmen kannst,
wenn du Stress ohne Drogen aushälst,
wenn du es schaffst, dich ohne Alkohol zu entspannen,
wenn du ohne Schlaftabletten schlafen kannst...

tja, höchstwahrscheinlich bist du dann der Hund der Familie.

Anonym

aus: Matthew Johnstone Resilienz

Blumen vom Bluemli

Wir schenken euch Blumen
Lila blühende Blumen
deren Schönheit
euch so überwältigt
dass ihr sie essen könnt

Und wenn ihr sie esst
dann essen sie euch
und zeigen euch
hinter der Bühne
dieses Grosse Spiel

Foto: von S.G. mit Fujifilm X-T2

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen

Sage nicht, daß ich morgen fortgehe -
denn ich komme doch heute gerade erst an.

Betrachte es ganz tief: Jede Sekunde komme ich an –
sei es als Knospe an einem Frühlingszweig
oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,
der im neuen Nest erst singen lernt;
ich komme als Raupe im Herzen der Blume
oder als ein Juwel, verborgen im Stein.

Ich komme stets gerade erst an, um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.

Ich bin die Eintagsfliege, die an der Wasseroberfläche
des Flusses schlüpft.
Und ich bin auch der Vogel,
der herabstürzt, um sie zu schnappen.

Ich bin der Frosch, der vergnüglich
im klaren Wasser eines Teiches schwimmt.
Und ich bin die Ringelnatter, die in der Stille
den Frosch verspeist.

Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,
mit Beinchen so dünn wie Bambusstöcke;
und ich bin der Waffenhändler,
der todbringende Waffen
nach Uganda verkauft.

Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
Flüchtling in einem kleinen Boot,
das von Piraten vergewaltigt wurde
und nur noch den Tod im Ozean sucht;
und ich bin auch der Pirat -
mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.

Ich bin ein Mitglied des Politbüros
mit reichlich Macht in meinen Händen;
und ich bin der Mann, der seine »Blutschuld«
an sein Volk zu zahlen hat
und langsam in einem Arbeitslager stirbt.

Meine Freude ist wie der Frühling, so warm,
daß sie Blumen auf der ganzen Erde erblühen läßt.
Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom, so mächtig,
daß er alle vier Meere auffüllt.

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich all mein Weinen und Lachen
zugleich hören kann,
damit ich sehe,
daß meine Freude und mein Schmerz eins sind.

Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich erwache,
damit das Tor meines Herzens
von nun an offensteht –
das Tor des Mitgefühls.

Nach dem Vietnamkrieg schrieben viele Menschen an uns in Plum Village. Wir erhielten jede Woche Hunderte von Briefen aus den Flüchtlingslagern in Singapur, Malaysia, Indonesien, Thailand und den Philippinen, jede Woche Hunderte. Es war sehr schmerzhaft, sie zu lesen, aber wir mussten in Kontakt bleiben. Wir versuchten unser Bestes, um zu helfen, aber das Leid war enorm, und manchmal waren wir entmutigt. Es heißt, dass die Hälfte der Bootsflüchtlinge aus Vietnam im Meer starb und nur die Hälfte an den Küsten Südostasiens ankam.
Es gibt viele junge Mädchen, Bootsflüchtlinge, die von Seepiraten vergewaltigt wurden. Obwohl die Vereinten Nationen und viele Länder versuchten, der thailändischen Regierung zu helfen, diese Art von Piraterie zu verhindern, fügten die Seepiraten den Flüchtlingen weiterhin viel Leid zu. Eines Tages erhielten wir einen Brief, in dem von einem jungen Mädchen auf einem kleinen Boot berichtet wurde, das von einem thailändischen Piraten vergewaltigt worden war.
Sie war erst zwölf Jahre alt und sprang ins Meer, wo sie sich ertränkte.
Wenn man von so etwas erfährt, wird man wütend auf den Piraten. Man stellt sich natürlich auf die Seite des Mädchens. Wenn du tiefer schaust, wirst du es anders sehen. Wenn du dich auf die Seite des kleinen Mädchens stellst, dann ist es einfach. Du musst nur eine Waffe nehmen und den Piraten erschießen. Aber das können wir nicht tun. In meiner Meditation habe ich gesehen, dass ich, wenn ich im Dorf des Piraten geboren und unter den gleichen Bedingungen wie er aufgewachsen wäre, jetzt der Pirat wäre. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass ich ein Pirat werden würde. Ich kann mich nicht so einfach verurteilen. In meiner Meditation habe ich gesehen, dass viele Babys am Golf von Siam geboren werden, Hunderte jeden Tag, und wenn wir Erzieher, Sozialarbeiter, Politiker und andere nichts gegen die Situation unternehmen, werden in fünfundzwanzig Jahren einige von ihnen Seepiraten werden. Das ist sicher. Wenn Sie oder ich heute in diesen Fischerdörfern geboren würden, könnten wir in fünfundzwanzig Jahren zu Seepiraten werden. Wenn du eine Waffe nimmst und den Piraten erschießt, erschießt du uns alle, denn wir alle sind bis zu einem gewissen Grad für diesen Zustand verantwortlich.
Nach langem Nachdenken habe ich dieses Gedicht geschrieben. Darin geht es um drei Personen: das zwölfjährige Mädchen, den Piraten und mich. Können wir uns gegenseitig anschauen und uns im anderen wiedererkennen? Der Titel des Gedichts lautet "Please Call Me by My True Names", weil ich so viele Namen habe. Wenn ich einen dieser Namen höre, muss ich "Ja" sagen.

Thich Nhat Hanh

After the Vietnam War, many people wrote to us in Plum Village. We received hundreds of letters each week from the refugee camps in Singapore, Malaysia, Indonesia, Thailand, and the Philippines, hundreds each week. It was very painful to read them, but we had to be in contact. We tried our best to help, but the suffering was enormous, and sometimes we were discouraged. It is said that half the boat people fleeing Vietnam died in the ocean; only half arrived at the shores of Southeast Asia.
There are many young girls, boat people, who were raped by sea pirates. Even though the United Nations and many countries tried to help the government of Thailand prevent that kind of piracy, sea pirates continued to inflict much suffering on the refugees. One day, we received a letter telling us about a young girl on a small boat who was raped by a Thai pirate.
She was only twelve, and she jumped into the ocean and drowned herself.
When you first learn of something like that, you get angry at the pirate. You naturally take the side of the girl. As you look more deeply you will see it differently. If you take the side of the little girl, then it is easy. You only have to take a gun and shoot the pirate. But we can't do that. In my meditation, I saw that if I had been born in the village of the pirate and raised in the same conditions as he was, I would now be the pirate. There is a great likelihood that I would become a pirate. I can't condemn myself so easily. In my meditation, I saw that many babies are born along the Gulf of Siam, hundreds every day, and if we educators, social workers, politicians, and others do not do something about the situation, in twenty-five years a number of them will become sea pirates. That is certain. If you or I were born today in those fishing villages, we might become sea pirates in twenty-five years. If you take a gun and shoot the pirate, you shoot all of us, because all of us are to some extent responsible for this state of affairs.
After a long meditation, I wrote this poem. In it, there are three people: the twelve-year-old girl, the pirate, and me. Can we look at each other and recognize ourselves in each other? The title of the poem is "Please Call Me by My True Names," because I have so many names. When I hear one of these names, I have to say, "Yes."

Please Call Me by My True Names

Do not say that I'll depart tomorrow—
even today I am still arriving.

Look deeply: every second I am arriving
to be a bud on a Spring branch,
to be a tiny bird, with still-fragile wings,
learning to sing in my new nest,
to be a caterpillar in the heart of a flower,
to be a jewel hiding itself in a stone.

I still arrive, in order to laugh and to cry,
to fear and to hope,
the rhythm of my heart is the birth and death
of all that are alive.

I am the mayfly metamorphosing
on the surface of the river,
and I am the bird which, when Spring comes,
arrives in time to eat the mayfly.

I am the frog swimming happily
in the clear water of a pond,
and I am the grass-snake
that silently feeds itself on the frog.

I am the child in Uganda, all skin and bones,
my legs as thin as bamboo sticks.
And I am the arms merchant,
selling deadly weapons to Uganda.

I am the twelve-year-old girl,
refugee on a small boat,
who throws herself into the ocean
after being raped by a sea pirate.
And I am the pirate,
my heart not yet capable
of seeing and loving.

I am a member of the politburo,
with plenty of power in my hands.
And I am the man who has to pay his
"debt of blood" to my people
dying slowly in a forced labor camp.

My joy is like Spring, so warm
it makes flowers bloom all over the Earth.
My pain is like a river of tears,
so vast it fills the four oceans.

Please call me by my true names,
so I can hear all my cries and laughter at once,
so I can see that my joy and pain are one.

Please call me by my true names,
so I can wake up
and so the door of my heart can be left open,
the door of compassion.

We all dance to a mysterious tune

Everything is determined, the beginning as well as the end, by forces over which we have no control. It is determined for the insect, as well as for the star. Human beings, vegetables, or cosmic dust, we all dance to a mysterious tune, intoned in the distance by an invisible piper.

Albert Einstein

Alles wird bestimmt, vom Anfang an bis zum Ende, durch Kräfte, über die wir keine Kontrolle haben. Sie bestimmen das Insekt genauso wie den Stern. Menschen, Gemüse oder kosmischer Staub, alles tanzt zu einer mysteriösen Melodie, aus der Ferne intoniert durch einen unsichtbaren Flötenspieler.

Justitia

Der Schnee sitzt der Justitia im Nacken, lastet schwer auf ihrer grazilen Gestalt, beugt sie und macht sie um Jahrhunderte älter; wie eine alte, gebückte Frau schaut sie zu Boden, auch wenn sie immer noch hoch oben auf der Brunnensäule balanciert. Ihre Waage ist durch den Schnee aus dem Gleichgewicht geraten; in der einen Schale hat sich mehr Schnee angesammelt und das Mehrgewicht drückt die Waage fast aus dem Gestell. Doch ihr Schwert fackelt immer noch gerade und steil in die Höhe und schneidet jede Schneeflocke elegant entzwei, die es wagt, ihr zu nah zu Boden zu fallen.

Ich bin nicht ich.

ICH BIN NICHT ICH.
Ich bin jener,
der an meiner Seite geht, ohne dass ich ihn erblicke,
den ich oft besuche,
und den ich oft vergesse.
Jener, der ruhig schweigt, wenn ich spreche,
der sanftmütig verzeiht, wenn ich hasse,
der umherschweift, wo ich nicht bin,
der aufrecht bleiben wird, wenn ich sterbe.

YO NO SOY YO.
Soy este
que va a mi lado sin yo verlo;
que, a veces, voy a ver,
y que, a veces, olvido.
El que calle, sereno, cuando hablo,
el que perdona, dulce, cuando odio,
el que pasea por donde no estoy,
el que quedará en pié cuando yo muera.

Juan Ramón Jiménez

Der Doppelgänger

In jenem früheren Traum befand ich mich auf der Wanderschaft. Auf einer kleinen Straße ging ich durch eine hügelige Landschaft, die Sonne schien, und ich hatte einen weiten Ausblick ringsum. Da kam ich an eine kleine Wegkapelle. Die Tür war angelehnt, und ich ging hinein. Zu meinem Erstaunen befand sich auf dem Altar kein Muttergottesbild und auch kein Kruzifix, sondern nur ein Arrangement aus herrlichen Blumen. Dann aber sah ich, daß vor dem Altar, auf dem Boden, mir zugewandt, ein Yogin saß - im Lotus-Sitz und in tiefer Versenkung. Als ich ihn näher anschaute, erkannte ich, daß er mein Gesicht hatte. Ich erschrak zutiefst und erwachte an dem Gedanken: Ach so, das ist der, der mich meditiert. Er hat einen Traum, und das bin ich. Ich wußte, daß, wenn er aufwacht, ich nicht mehr sein werde.

Aus C.G. Jung Erinnerungen, Träume, Gedanken

Don Juan (Lehrer und Schamane in Castaneda "Der Ring der Kraft") bezeichnet die Entwicklung eines Doppelgängers als Anhalten der Welt, als Heraustreten aus unserer Identität. Er sagt, unser gewöhnliches Selbst träume den Doppelgänger. Hätten wir aber einmal gelernt, den Doppelgänger zu träumen, kehrten die Dinge sich um, und wir könnten erkennen, daß in Wirklichkeit der Doppelgänger das Selbst träume; wir selbst seien ein Traum, weil der Doppelgänger uns träume, genauso wie wir normalerweise meinen, wir hätten ihn geträumt.

Normalerweise identifizieren wir uns mit unserem alltäglichen Selbst, unserem primären Prozeß, weil unsere persönliche Geschichte und unsere Identität wichtig für uns sind. Aber je besser wir auch die sekundären Prozesse wahrnehmen, um so eher sind wir fähig, unsere normale Identität anzuhalten. Wenn wir das tun, wird unser Traum­körper zu unserer grundlegenden Realität, die unsere normale Welt aufzuträumen scheint, um sich selbst zu verwirklichen.

Wir wissen, daß unser Traumkörper oder unser Doppelgänger wirklich das erzeugt, was wir als gewöhnliches Leben erfahren, wie z. B. Störungen und Körpersymptome, weil wir Probleme aufträu­men, wenn es uns langweilig ist. Wir haben keine andere Möglichkeit, um zu zeigen, wer wir sind, als die, uns selbst zu irritieren und durch ein gewöhnliches Alltagsleben einzuschränken.

Jung erklärt, daß sein Traum „das Unbewußte als Erzeuger der empirischen Person" darstelle. Er sagt, sein Traum zeige eine Um­kehrung der Wirklichkeit. Statt das Leben vom Standpunkt der nor­malen Identität, des Ego, zu sehen, zeigt dieser Traum vielmehr, daß das Ego der Traum des Unbewußten sei. Weiter sagt er, daß „... unsere unbewußte Existenz die wirkliche ist und unsere Bewußtseinswelt eine Art Illusion oder eine scheinbare, zu einem bestimmten Zweck hergestellte Wirklichkeit darstellt, etwa wie ein Traum, der auch so lange Wirklichkeit zu sein scheint, als man sich darin befindet... Die unbewußte Ganzheit erscheint mir daher als der eigentliche Spi­ritus rector alles biologischen und psychischen Geschehens.“

Der spiritus rector, der führende Geist im Leben, ist das, was wir sind, wenn wir uns mit dem sekundären Prozeß identifizieren und in ihn hineingehen. Dann sind wir unser Doppelgänger, der Traummacher, das körperliche Leben und die unkontrollierbaren Ereignisse der Welt. Jungs Spiritus rector, unser Traumkörper und der Doppelgänger des Schamanen, haben die Welt, in der wir alle leben, aufgeträumt.

Aus: Arnold Mindell The Shaman`s Body

 

Primärer Prozeß: alles, was mit unserer persönlichen Identität ver­bunden ist.

Sekundärer Prozeß: Erfahrungen, die wir als nicht zu unserer persön­lichen Identität gehörend empfinden. Wir nehmen sie in passiver Weise oder als Emotionen oder Erfahrungen wahr, mit denen wir uns nur sehr schwer identifizieren können, zum Beispiel Wut, Neid, Angst, Macht oder Numinosität.

Doppelgänger: Abbild unseres ganzheitlichen Selbst, unserer essen­tiellen, aber nicht integrierten Natur. Dieser nicht integrierte, häufig unerwünschte Teil zeigt sich nach außen in Doppelsignalen, einem Verhalten, mit dem wir uns nicht identifizieren. Es verwirrt unsere Mitmenschen, weil es doppeldeutig ist - sie werden aufgeträumt. Wir verwirklichen unseren Doppelgänger, wenn wir bewußt Verant­wortung für unsere sekundären Prozesse übernehmen.

Doppelsignale: Sprach- und Körpersignale, mit denen sich der Sen­der nicht identifiziert. Diese Signale sind mit einem sekundären Pro­zeß verbunden.

Aufträumen: Ein Phänomen, welches auftritt, wenn ein Doppelsignal in einer anderen Person Reaktionen hervorruft. Der Ausdruck kommt von der empirischen Wahrnehmung, daß die Reaktion dieser anderen Person immer in den Träumen der Person vorkommt, welche die Doppelsignale aussendet (die Reaktion ist sozusagen „aufge­träumt").

Tauwetter

TAUWETTER

Warmer Regen
wäscht den Schnee
fort

Vom Schneemann steht
nur mehr
ein Phallus

Der
hebt die Blicke
der Vorübergehenden

Und Regentropfen
höhlen Augen
aus

Und Windstösse haschen
vergeblich
nach altem Laub

Vom Schmutz der Vergänglichkeit gejagt
ducken sich ein paar Schneefelder noch
in der Landschaft

Aas
für die Schwärze der Raben
die in Scharen landen

Und langsam, Schritt für Schritt
schreiten die von Lawinen Verschütteten
ans Licht

Abfall

Wenn wir in einer Gruppe einen «Abfallkübel» aufstellen, in den alle Mitglieder Zettel mit ihren schlimmsten und kritischsten Gedanken werfen können, und diese Zettel dann vorlesen und bearbeiten, lernen wir auf lockere Art die spannungsgeladensten Bereiche des jeweiligen Gruppenlebens kennen. Abfall ist Schatten: die heimlichen, bösen, verbotenen und doch schönen Gedanken, die wir schnell wieder beiseite schieben. Gute psychische Ökonomie heißt, diesen Abfall so oft wie nötig zu prozessieren. Menschliche Gruppen zeichnen sich alle durch denselben Abfall aus, er manifestiert sich in unseren heimlichen Gedanken, die wir über einander haben: Wer verdient wieviel? Wer ist am stärksten? Wer am schwächsten? Wer ist am intelligentesten oder schönsten? Wer schläft wohl mit wem? Wer gehört zu den «Insidern», wer zu den Außenseitern? Wer hat Macht? Wer bestimmt, was wirklich läuft?

Dieser Abfall ist zwar faszinierend, wird aber abgelehnt, weil er den Gruppenideologien widerspricht und weil Gruppen meistens wenig Humor für ihren Schatten aufbringen. Netzwerke (Gruppen) verhalten sich wie einzelne Menschen und beschäftigen sich nicht gern mit ihrem Schatten, sondern ziehen es vor, ihn «irgendwie» loszuwerden, wodurch sie eine schmutzige Informationswolke und eine mitunter beklemmende Atmosphäre erzeugen.

Wenn der Abfall prozessiert wird, schafft er immer mehr Beziehungen und stärkt die geistige Verbindung zwischen den Gruppenmitgliedern. Aber in den meisten Organisationen besteht kaum Hoffnung, daß sie ihren Abfall jemals ans Licht bringen.

Bei einem Supervisionsseminar, das ich kürzlich in der Schweiz durchführte, waren einige Studenten fortgeschrittener als andere, und die weniger Fortgeschrittenen fühlten sich übergangen und vernachlässigt. Die äußeren Umstände waren wirklich so, denn ich konzentrierte mich damals tatsächlich mehr auf die fortgeschrittenen Studenten.

Wir fingen an, den Abfall - in diesem Fall das Gefühl, übergangen zu werden - zu prozessieren, und dies führte zu einer wunderschönen Erfahrung. Einige Teilnehmer spielten die «Eingeweihten», andere die Außenseiter. Nachdem sich die beiden Parteien eine Weile angeklagt und bekämpft hatten, bemerkte schließlich jemand, wie ruhig es im Raum geworden war. Eine andere Person sagte schüchtern, sie habe eine Melodie gehört und fing an, sie zu summen. Das Lied, das sie gehört hatte, war «Dona»; die Worte lauten:

Auf dem Wagen liegt ein Kälbchen
liegt gebunden mit dem Strick.
Durch den Himmel fliegt ein Schwälbchen,
fliegt und flattert hin und zurück.

Lacht der Wind im Korn
lacht und lacht und lacht.
Lacht darob den ganzen Tag, den ganzen,
und die halbe Nacht.
Dona dona dona dona...

Weint das Kälbchen, sagt der Bauer:
Wer hat dir gesagt: Sei Kalb?
Solltest lieber sein ein Vogel,
solltest lieber sein die Schwalb.

Lacht der Wind im Korn . . .

Dumme Kälbchen soll man binden,
schlachtet sie und hat noch recht.
Doch wer Flügel hat, kann fliegen
und ist keines Menschen Knecht.

Lacht der Wind im Korn .. .

Als sie das Lied vorsang, erklärte uns ein Mann seine Bedeutung. Er sagte uns, daß es während des Zweiten Weltkriegs von einem Juden in einem Konzentrationslager geschrieben wurde, der - wie das Kalb - für den Transport in die Gaskammer gebunden war. Ein Priester konnte das Lied aus dem Lager schmuggeln. Das Lied besagt, daß ein Kalb nicht weiß, daß es einen Vogel gibt, eine frei fliegende Schwalbe am Himmel oben. Der gequälte Außenseiter muß sich den Geist von Freiheit und Ungebundenheit vor Augen halten, den Geist des Vogels, der stolz und frei ist. Drinnen oder draußen zu sein ist etwas Relatives, eine momentane Rolle in einem Feld. Dies zu wissen bedeutet wahre Freiheit, die hoch aufsteigende Freiheit der frei fliegenden Schwalbe am Himmel.

Nach dem Lied waren alle still. Das Lied hatte die Barrieren geschmolzen, welche die beiden Lager getrennt hatten, und die Spannung in ein Gefühl von Ewigkeit umgewandelt.

Arnold Mindell Das Jahr Eins, 1989

Bild: Schwarzer Hirsch und sein Stammeszentrum, aus Arnold Mindell Das Jahr Eins - Hilda Neihardt Petri, Lake Ozark

Gott erschuf den Menschen, weil er Geschichten liebt.

Wenn Rabbi Israel ben Elieser, der Baalschem-tow, sein Volk vom Unglück bedroht sah, pflegte er einen bestimmten Teil des Waldes aufzusuchen und dort zu meditieren. Er entfachte ein Feuer, sagte ein bestimmtes Gebet, und das Wunder geschah, das Unglück wurde abgewendet.

Später, als sein Schüler, der berühmte Maggid von Mesritsch, aus denselben Gründen Gelegenheit hatte, beim Himmel Fürbitte für sein Volk einzulegen, ging er an dieselbe Stelle im Wald und sagte: „Herr des Weltalls, höre! Ich weiss nicht wie man ein Feuer entfacht, aber ich weiss das Gebet noch zu sagen.“ Und wieder geschah das Wunder.

Sein Nachfolger, der Mosche Löb von Sasow, sagte, als er in den Wald ging, um sein Volk zu retten: „Ich weiss zwar nicht, wie man ein Feuer entfacht, auch kenn' ich das Gebet nicht mehr, aber ich weiss den rechten Ort noch, und das muss genügen.“ Das Wunder geschah.

Schliesslich fiel die Aufgabe, das Unglück abzuwenden, dem Rabbi Israel von Rizin zu, der zu Hause im Lehnstuhl sitzend, den Kopf in die Hand gestützt zu Gott sprach: „Ich kann kein Feuer entfachen, ich weiss das Gebet nicht, nicht einmal die Stelle im Wald find ich mehr. Ich kann gerade noch die Geschichte erzählen, das ist alles. Es muss genügen.“ Und es genügte.

Gott erschuf den Menschen, weil er Geschichten liebt.

Eli Wiesel The Gates of the Forest

Bild: Der Schattenschlepper, 1992, Gouache auf Papier

Was unserem Herzen wirklich nahe ist

Das wissenschaftliche Bild der realen uns umgebenden Welt ist sehr mangelhaft. Es liefert mir eine Menge an faktischen Informationen, bringt all unsere Erfahrung in eine wunderbar konsistente Ordnung, hat aber zu allem, was unserem Herzen wirklich nahe ist, und was uns wirklich nahegeht, ein beängstigendes Schweigen bewahrt.

Erwin Schrödinger, Physiker und Entwickler der Quantenmechanik

Unser Hund, dieser Wirklichkeitsbegleiter

Fujifilm X-T2,  XF 35 F2 (55mm KB)

Die Fähigkeit eines Hundes, ganz er selbst zu sein, ist die gleiche Fähigkeit wie die einer Mohnblume, die ihre im Frühsommer fast durchsichtigen Kelchblätter über dem haarigen Stiel hervortreibt, und sei es aus einer winzigen Spalte im Gehsteigpflaster. Die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt nennt solche Momente, in denen es uns gelingt, mit unseren Bedürfnissen in Kontakt zu treten, nicht mit dem, was von uns verlangt wird und was wir dann gehorsam selbst von uns verlangen, „Blühphänomen“. Wenn es uns gelingt, echt zu sein, blühen wir, und sei dieses Echtsein ein Echtsein im Schmerz. Auch der Schmerz, die echte Trauer, die echte Wehmut sind Blüten, weil sie uns real sein lassen.

Unser Hund, dieser Wirklichkeitsbegleiter, der nicht anders kann und nicht anders will, als ganz echt zu sein, ist für uns somit beständig Blüte. Er oder sie erinnert uns daran, dass wir auch blühen können: Jedes Mal, wenn er uns begrüßt, wenn er über etwas, das wir teilen, beglückt ist, wenn er gedankenlos zum Playbow mit wedelndem Schweif und nach vorn gedrücktem Oberkörper ansetzt, ist das eine Aufforderung zum Blühen.

Das Geheimnis der „tiergestützten Therapie“ besteht darin, uns Menschen zu erinnern, dass wir blühen können, das heißt, dass wir echt sein können, dass es ein Fühlen in uns gibt, das weiß, was uns lebendig macht und was nicht, wenn wir es uns nur gestatten, uns damit zu verbinden. Wenn wir das Gefühl haben, dass uns ein Tier respektiert, dann ist es in Wahrheit das: Es erlaubt uns zu blühen, weil wir sein dürfen. Und umgekehrt gilt: Wenn wir unser Tier respektieren, dann erlauben wir ihm das Blühen.

Respekt kann nur etwas Gegenseitiges sein. Respekt kann nur die Anerkenntnis der Echtheit des Anderen sein: Das Ihn-sein-Lassen, das dazu führt, dass er sein kann und sein darf. Erziehung wäre dann nichts anderes als das: zum Sein einzuladen. Und diese Einladung auszusprechen, heißt zu wünschen, dass der andere blühe. Wie sehr haben wir uns diese Einladung immer wieder von anderen Menschen gewünscht. Und allzu oft sprechen sie das Gegenteil aus, durch zusammengepresste Lippen, durch Geschrei, durch Verweis auf die Hausordnung: Sei nicht!

Sowohl Hunde als auch Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis, den Anderen Raum zu lassen und deren Wohlergehen zu fordern. Wir sind zutiefst soziale Wesen. Wir sind zahm, und das heißt: Wir haben eine Intuition dafür, dass das Blühen des Anderen eine Voraussetzung des eigenen ist. Respekt lehren heißt unter einer solchen Perspektive allein, Stopp zu sagen, wenn die eigenen vitalen Bedürfnisse verletzt werden. Und das ist nichts anderes, als eben auch sich selbst das Sein zu erlauben.

Darin besteht, wie alle wissen, die das schon einmal versucht haben, die ganz hohe Schule. Uns allen fällt es etwas leichter, sie zu absolvieren, wenn wir einen Vierbeiner an unserer Seite haben. Der Hund ruft uns zu: Sei! Sei, wie ich auch sein kann! Sei, gemeinsam mit mir!

von ANDREAS WEBER, Biologe, Philosoph und Autor. Er lebt mit Pudelmischling Erbse als bester Freundin zusammen. Derzeit schreibt Weber an seinem neuen Buch, „Sein und Teilen“, das im März 2017 im Verlag transcript erscheint.

aus: DOGS Heft 6 / 2016 RESPEKT!