Befreiung

Nach dem I Ging sind demnach alle Phänomene in individuellen oder Gruppenkanälen durch das übergreifende Muster sämtlicher zusammenspielender Kanäle miteinander verbunden. Befreiung und Erleuchtung erlangt laut dem alten Weisheitsbuch derjenige, der das Muster ahnt und sich dem immerwährenden Fluss hingibt. Formulieren wir diese Idee prozessorientiert, so erlangen wir Individuation durch Erkenntnis und Nachfolge der hinter Körperphänomenen, Träumen, Beziehungen und Schwierigkeiten mit der Umwelt wirksamen Struktur.
Das Schwierige an der Philosophie des I Ging ist allerdings, dass es fast unmöglich ist, ihr gemäss zu leben!
Im praktischen Alltagsleben ereignen sich Prozesse oft genau in den dem Bewusstsein entgegengesetzten Bereichen. Der Heilige unterdrückt seine Sexualität, der Erwachsene lehnt seine Eifersucht und seinen Ärger ab. Die schlichtesten, menschlich natürlichsten Phänomene sind oft für die meisten von uns nicht zu akzeptieren. Die Natur ist vollständig, wir aber sind einseitig und selektieren unsere Wahrnehmungen.
Unsere Bestrebungen nach Unabhängigkeit und Befreiung können nicht anders als immer wieder enttäuschen, da den Sekundärprozessen zu folgen an die Grenze unserer Fähigkeiten und unserer Weltanschauung führt. Wir brauchen Zeit, Geduld und oft auch die Hilfe unserer Freunde, um unsere Ganzheit zu erfahren. Oft fallen wir angesichts unserer Lebensrealität in Angst und Trägheit zurück. Sich von eingefahrenem Verhalten, einem Symptom oder einem Komplex zu befreien, ist keine Kleinigkeit und zeigt sich nicht einfach auf Wunsch, sondern erfordert viel Mut und Wachheit, wenn uns nicht eine Bedrohung auf Leben und Tod über unsere Grenzen und bewussten Abwehrhaltungen hinausstösst. Das I Ging kannte diese Schwierigkeiten schon vor Jahrhunderten und warnt uns:

Die Wandlungen haben kein Bewusstsein, keine Handlung, stille sind sie und bewegen sich nicht. Werden sie aber angeregt, so durchdringen sie alle Verhältnisse unter dem Himmel. Wenn sie nicht das Allergöttlichste auf Erden wären, wie könnten sie so etwas?

Unser alter Orakelführer spricht damit aus, dass der Prozess oder die gegenwärtige Lebenssituation sich nicht von selbst wandeln wird. Es bedarf des Anreizes und der Bewusstheit. Wir würden sagen, Amplifikation ist notwendig. Dann kommt der Prozess in Bewegung, er wandelt sich und der verhängnisvollste Trott, der schwierigste Engpass, das schlimmste Symptom und der komplizierteste Komplex können „durchdrungen“ werden. Im I Ging ist dies von allem das „Göttlichste“, was soviel heisst wie eine Art Gotteserfahrung, ein religiöses, wunderbares Erleben, das von Prozessen ausgelöst und doch nicht fassbar wird. Aber Menschen grenzen sich gegenüber derartigen Erfahrungen ab!
Der schwächste Punkt im Taoismus scheint mir, dass er sich gerade mit der Grenze nicht befasst. Der legendäre Laotse, der Verfasser des Tao te king, schrieb seine Weisheit nieder, nachdem die meisten seiner Grenzen überschritten waren, gerade als er am Leben verzweifelte, irritiert durch den für Menschen typischen Mangel an Bewusstheit . Als er im Begriff war, die Stadt zu verlassen, um in der Wüste zu sterben, setzten ihn einige Stadttorhüter im Westen Chinas fest und brachten ihn schliesslich dazu, sein Konzept vom Tao zu schreiben. In Kapitel 21 seines Tao te king lesen wir:

Die höchste Tugend ist es, dem Tao zu folgen, dem Tao allein.
Das Tao ist unbegreiflich und unantastbar.
Oh, es ist unantastbar und unbegreiflich
und dennoch enthält es Bilder.
Oh, es ist unbegreiflich und unantastbar
und dennoch enthält es Form.
Oh, es ist verschwommen und dunkel
und dennoch enthält es Sinn.
Sein Wesen ist durch und durch Wahrheit;
dem vertraue ich.
Vom allerersten Anfang bis heute blieb es namenlos.
So also gewahre ich die Schöpfung.

Laotse erinnert daran, wie schwer es ist, das Tao zu entdecken; er sagt, es ist sehr wirklich und sehr fasslich, aber er sagt uns nicht, wie das Tao entdeckt werden kann. Die Antwort auf die Frage nach dem Wie, und das zu beachten ist wichtig, liegt in der Entstehung des Tao te king. Taoistische Philosophie entsteht an der Schwelle des Todes!!!

Der Zen-Meister Wu Tse ergänzt Laotse mit der Aussage, dass aussergewöhnliche und gefahrvolle Umstände das Sein des Tao lehren. Er erzählt uns eine Geschichte etwa folgenden Inhalts: Es war einmal ein Junge, der von Grund auf lernen wollte, ein Dieb zu werden wie sein Vater. Dieser, an der Entwicklung des Jungen interessiert, nahm ihn mit zu seiner ersten „Arbeit“ in das Haus eines reichen Mannes in der Nachbarschaft. Vater und Sohn brachen des nachts verstohlen ein, fanden die Schatzkiste und öffneten sie. Als aber der Junge vor der Kiste stand und ihren Inhalt bestaunte, schubste ihn der Vater rasch in die Kiste und verriegelte sie. Dann rannte der alte Mann aus dem Haus und schlug laut die Türe hinter sich zu, damit alle schlafenden Bewohner erwachen sollten. Der Knabe, der keine Luft mehr bekam und zu sterben fürchtete, kratzte wie eine Maus von innen an der Kiste, bis ein neugieriges Mädchen das Geräusch hörte und den Deckel öffnete.
Ehe sie sich's versah, wirbelte der Junge wie der Wind heraus, löschte des Mädchens Kerze und rannte zur Tür hinaus. Als er am Brunnen im Garten vorbeikam, hielt er einen Augenblick inne, hob einen Stein vom Boden auf und warf ihn ins Wasser. Die Familie, die den Dieb verfolgte, hörte das Platschen und wähnte den Dieb ertrunken.
Als der Junge nach Hause kam, fragte er den Vater, warum er ihn in die Kiste gesperrt hätte. Statt einer Antwort fragte der Vater nur, wie er entkommen sei. Nachdem er die Geschichte gehört hatte, beglückwünschte er seinen Sohn. Er habe die Kunst der Diebe erlernt.

Wu Tse will damit sagen, dass Spannung auf Leben und Tod nötig ist, damit man lernt, dem Tao zu folgen oder ein erleuchteter Mensch wird. Was das bedeutet, ist mir aus meiner Praxis wohl bekannt. Jahrelange Übung, Glaube oder Psychotherapie reichen nicht aus, unsere Ängste oder unsere Wahrnehmungsblockaden zu überwinden. Wir wollen den Fall eines Mannes mittleren Alters betrachten, der einen Lungentumor hatte. Ich hatte schon eine Weile regelmässig und höchst undramatisch mit ihm gearbeitet. Aber langsam drängte ihn die Angst vor dem Tode, wie er erklärte, zu einem Versuch, seine „Vorbehalte“ zu überwinden. Wir hatten schon früher Atemprobleme berührt, aber irgendwie zwang uns zu dem Zeitpunkt nichts, wirklich bis zu den Wurzeln dieser Schwierigkeiten vorzudringen.

Er begann mit der folgenden Geschichte. Vor einigen Jahren war ihm ein gutartiger Tumor aus der Lunge entfernt worden. Jetzt war er an der gleichen Stelle wieder gewachsen. Seine Frage war, ob er ihn diesmal wieder operieren lassen sollte oder nicht. „Vielleicht ist er bösartig“, lachte er verlegen. Wir arbeiteten mit diesem Lachen und er gestand ein, dass er sich fühle, als habe er resigniert. Es war ihm, als sollte er keine Hilfe in Anspruch nehmen, obwohl er sie nötig hatte. Während er sprach, legte er seine Hand auf die Brust und sagte, wenn er seine Behinderung beim Atmen spüre, sähe er jemanden, der ihn drücke. Ich wechselte den Kanal mit ihm und bat ihn, seine Vision näher anzusehen. Dabei bewegten sich seine Arme leicht, als ob er jemanden umarmte, während er sein inneres Bild beschrieb. Ich liess ihn in die Bewegung wechseln und amplifizierte seine Geste, indem ich ihn fest umarmte. Als ich ihn drückte, kam ihm plötzlich eine Erinnerung. „Als ich ein Kind war, haben mich zwei Freunde zusammengequetscht, bis ich bewusstlos war! Aber als ich erwachte, war die Welt vollkommen in Ordnung!!“. Er überlegte einen Moment und dann weinte er. Er gestand zum erstenmal, dass er Alkoholiker war und jeden Tag heimlich trank. Er sprach davon, wie er es liebte, „hinüber zu sein“ und wie hilfreich für ihn das Trinken war. Es ermöglichte ihm, mit schmerzhaften Situationen umzugehen. Ich hörte in seinem leisen Stimmklang etwas, worin ich sein „Hinübergehen“ vermutete und schlug deshalb vor, er solle seiner Stimme zuhören, die Worte weglassen und nur den Ton summen, den er in sich höre. Er fing an zu summen und fiel sofort in Trance. Nach einer Weile kam er zurück und sagte langsam: „Warum operieren? Jetzt bin ich gesund. Ist so etwas möglich? Ich brauchte einen Tumor und chronische Atemprobleme, um diesen Punkt zu erreichen.“
Mir scheint, jedermann kann ein erleuchteter Taoist werden, wenn er, ausser dass er sich davon faszinieren lässt, dem Prozess zu folgen, auch noch das grosse Glück hat, wie der junge Dieb, einen Vater zu haben, der die Voraussetzungen zum Lernen schafft, oder dessen Leben genügend Schwierigkeiten, Gefahren und Angst bereithält und damit selbst einen halsstarrigen Menschen zwingt, beweglich und bewusst zu werden.

Arnold Mindell River's Way

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