Wer träumt?

Yasutani Rōshi
meditiert nicht
er träumt
von zwei Hunden
die unter ihm
schlafen
und träumen
von einem Zenmeister
der nicht meditiert
sondern
schläft
und träumt
in einem Bild
an einer Wand
eines Zimmers
von zwei Hunden
die nicht meditieren
sondern
schlafen
und träumen
sie seien
zwei Menschen
in einem Bett
eines Zimmers
schlafend
und träumend
von einem Zenmeister
genannt
Hakuun Yasutani Rōshi
der mit Eitempera
auf Packpapier
gemalt
schon seit
vielen Jahren
in einem Rahmen
an einer Wand
eines Zimmers
hängt
und nicht schläft
sondern
meditiert
und dank seiner
grossen Leidenschaft
und Geduld
in diesem Augenblick
das Kōan
Wer träumt?
meistert

 

Der Traum von Yasutani Roshi

 

Bild: Yasutani II Eitempera auf Packpapier, 1992

 

Birte

Heute wische ich mir
die Bitternis von den Lippen
die als Stabreim noch
an deinem Namen haftet
Birte

Dann nehme ich deinen Namen
zart in meine Hände
wie eine leere Hülle Haut
Bittere
Birte

Habe durch dich
von der Liebe geschmeckt
die hinter allem wartet
hätte gerne noch mehr vom Leben
mit dir geteilt

Den Schmerz
zum Beispiel
oder ein Kind

Wir hätten dann
im Sessel des Alters
das gelebte Leben betrachtet
wie im Kino den Film
Okuribito
damals
als der unzähmbare Fluss
durch unsere jungen Körper
gerauscht

Wären dann rübergehüpft
über den Tod
wie in den Quartierstrassen
die Kinder
über Hosengummis
einer nach dem andern
ins Grosse Meer
spielerischer Leichtigkeit

Hätten der Schwerkraft
ein Schnippchen geschlagen
die uns so gern
wieder in eine Körperhaut
gedrückt
und in einer Gebärmutter
versenkt

Doch ich weiss nicht
wo du jetzt bist
und was du jetzt tust
vielleicht läufst du umher
grau und mondän
eine fremde Frau
unter vielen

Und fragst dich heimlich
ob du auch geliebt hast
ob du auch
ein rohes Herz trägst
nackt
in die Nacktheit der Liebe

Woher nur
soll ich das wissen
Mein Name ist
eines Morgens
nicht mehr
mit mir
erwacht

O Namenlos
bin ich
dazu verdammt
Engel vom Himmel zu bitten
um auf ihren Häuten
Gedichtchen
zu dichten

An die Namen
all meiner
gegangenen
Geliebten

 

Bild: Im Trojanischen Pferd Gouache auf Papier, 1993

Die Taube

Für Birgit

Hinter verschmutzter Fensterscheibe
wartet der Himmel
weiss wie Kalk

Auf dem scheebesetzten Dachfirst
lässt sich eine Taube nieder

Meine Liebe ging verloren
gestern

Da fliegt der Täuberich zur Taube
und tanzt zum Gesang der Stille

Die Illusionen sind zerfallen
und aus Staub gebaut ist das Haus

Abgrundtief kreuzt ein Schiff
im Himmel

Blauer Trauerstaub verstaubt
meine Seele

Wie vergeblich ist es doch
das verstaubte Staubbeutelfach
des ATEMA 2009 BST
mit dem ATEMA 2009 BST
zu staubsaugen

Deshalb nimm den Staub
und male in den Himmel

Eine Taube in Ultramarinblau

Genau in dem Moment
da sie flattert

Aus der schmerzhaft
sich öffnenden Hand

 

Bild: Gebet um Ganzheit - Tetralogie des Zerbrechens IV Öl auf Novopan, 1990

Fliegen

Ich schreibe
ein Gedicht
am Tisch
Musik
inspiriert mich
Fliegen
stören mich
Mit den Händen
schlag ich sie tot
Eine
nach der andern
Die beharrlichsten
glauben zuerst daran
Goldner Engelflügelstaub
setzt sich fest
und der Bildschirm
des Laptops
erblindet
Meine Finger
schreiben weiter
und zählen
die toten Fliegen
denn in diesem Gedicht
ist jede tote Fliege
ein erobertes Wort

Das Licht
ist immer hier
doch es zu suchen
ist vollkommen
vergeblich

steht da
mit Fliegenblut
geschrieben
Ach
mit Liebesblut
habe ich einst
Lieder gesungen
an Engel
mit bezaubernden Brüsten
und jedes Staubkorn
wurd ein Wort
Heut begnüge ich mich
an Fliegen zu schreiben

Liebe Fliegen
fliegt
geschwind
fliegt
wie weisse Schwäne weit
fliegt

Bild: Eva`s Fall - Tetralogie des Zerbrechens II Öl auf Novopan, 1990

Eine kleine billige Porzellanvase mit blauen Verzierungen auf weissem Grund

He du, sagt jemand, irgendwie von links, von links schräg hinten, vage. Ich glaube, ich habe nichts gehört. Die Arbeit vor mir auf dem Tisch ist zweifellos bedeutend und vereinnahmt all meine Kräfte. He du, sagt dieser Jemand erneut, mit leicht und hübsch geformten Worten wie reizende Sommerwölkchen, so dass ich unwillkürlich mich ein kleinwenig mehr über meine Arbeit beuge; aber als wäre das gerade der genau passende Auslöser gewesen, auf den er nur gewartet habe, schleudert er mir jetzt eine Serie ganzer Sätze wie Boxhiebe in die linke Flanke, ob ich nicht gemerkt hätte, dass es das Leben gewesen sei, das vorhin auf den Boden gefallen sei und dort zerbrochen, dass es das Leben gewesen sei, mehrmals, direkt links in meine Niere mit einer Stimme, die mit der Monotonie eines chronisch tropfenden Wasserhahns in meiner Tiefe die Seele verstört. Aufgeschreckt hebe ich meinen Kopf und richte mich im Stuhl gross auf.
Dieser Elende, der glaubt, das Leben sei vorhin am Boden zerbrochen, sage ich und lächle überlegen. Wie er es mir wieder sagt, diesmal unverschämt vertraulich wie einem Freund ins Ohr, breche ich in unmässiges Lachen aus und schlage mir mit der platten Hand auf den Schenkel: Nein, so ein Unsinn, hat man das schon gehört! Sicher nicht das Leben, nur eine kleine billige Porzellanvase mit blauen Verzierungen auf weissem Grund.
Aber hartnäckig glaubt er mir nicht, und deshalb erkläre ich ihm nochmals, das letzte Mal und mit vor Wut bereits erstarkter Stimme, dass es eine billige Vase gewesen sei, die auf meinem Tisch gestanden wäre und durch irgendeine unkontrollierte, zufällige Bewegung meines linken Ellbogens höchstpersönlich zu Boden gefallen sei, wo sie natürlich auf den harten Fliesen sofort zerbrochen.
Aber plötzlich werde ich unsicher. Es kommt in mich wie eine dunkle schöne Krankheit kommt mit sanft tanzender, schlangenartiger Bewegung, erfasst mich, hebt mich vom Stuhl, legt sich auf meine Schultern und drückt mich tief in die Knie ganz in eine einzige Bewegung hinein, die sich in meinen Fingern zuspitzt, um die Scherben zusammenzukratzen.

Bild: Kreuzigung hinter Gittern Eitempera auf Packpapier, 1987

Enttäuschung ist des Kaisers neues Kleid.

Für Tom

Der Regen regnet. Ich höre sein rieselndes Tropfen. Etwas Sanftes. In mir drin fühle ich synchron etwas Trauriges. Hatte heute eine Auseinandersetzung mit einem mir nahestehenden Menschen. Es regnet etwas kräftiger. Jetzt hat sich mein Hören verändert. Etwas Weiches liegt in meinem Bauchraum auf etwas Hartem, Spitzigem. Das Weiche liegt da wie ein Ei, und weiter oben kommt es mir weit, aber auch nass vor, wie milde Trauer, eine Art Lösen. Trauer hat etwas Lösendes. Jetzt zeichnet der Konflikt deutlich in meinen Gedanken ein Bild. Ich spüre die Spannung zwischen uns, ich spüre sie in mir, lasse sie dort sein und halte sie einwenig. Da zeigt sich Enttäuschung. Irgendwie fühle ich mich enttäuscht, andererseits ist es auch okay. Es ist so. Es herrscht Istigkeit. Wohl deshalb fühle ich jetzt etwas Friedliches in mir. Es passt zum leichten Luftzug, der vom Fenster, das  aufgeklappt ist, hineinzieht und mich berührt. Friede ist Vertrauen, Vertrauen ins Leben, Vertrauen ins Wahrnehmen, ins Nehmen des Wahren. Im Grunde genommen sind wir doch immer eingebettet. Wir sind wie ein Ei eingebettet im Nest des Erlebens, im Nest dessen, was gerade passiert, im Nest des Augenblickes. Ja, in mir ist Frieden eingezogen, vielleicht die Art von Frieden, die sich nach einer erlebten Enttäuschung einstellt. Die Enttäuschung ist des Kaisers neues Kleid. Ich habe mich getäuscht. Ich habe ein Bild gezeichnet, das ich wieder ausradieren musste, weil es nicht stimmte. Das frei radierte Blatt Papier ist ein weiter Raum, jetzt gerade im Brustbereich als Frieden erlebbar. Und etwas Aufregendes entsteht, wenn ich daran denke, dass dieser Friede vom steigenden Vertrauen ins Leben herkommt. Jetzt geschieht das Geräusch eines unten durch den Blumenweg fahrenden Autos. Die Räder des Autos zeichnen das Geräusch ins Nass der Strasse. Und der Regen ist kräftiger geworden. Die Regentropfen trommeln. Mein Rücken schmiegt sich in die Kissen des Bettsofas. Leichte Kopfschmerzen ziehen durch die Stirn wie Wolken. Und der rechte Arm zieht etwas von der Anstrengung des Schreibens. Im Einklang ist die Welt. Ein leeres Schlucken. Da ist Schmerz. Ich lege mich in den Schmerz. Ich fühle ihn. Ich respektiere ihn und bin gleichzeitig frei, frei mit dem Schmerz, der da ist, der unpersönlich durchs Leben zieht, wie ein zäher und dunkler Fluss.

Zeichnung: Der lesende Tom Kratky Bleistift auf Papier, ca. 1980

Ein Hundstag

Ich sitze auf dem Balkon unserer Stadtwohnung. Die nackten Füsse auf dem warmen Boden. Die angenehme Wärme des Steinbodens halten die Füsse fast liebend am Boden fest. Wärme scheint zu verbinden und anzuziehen. Der Balkonboden ist vielleicht nur ein klein wenig wärmer als die gefühlte Wärme in meinen Füssen. Sie macht aber den Eindruck meiner Füsse breiter. Bei den Fersen spüre ich einwenig Schmerz. Vielleicht Reste vom Schmerz des Tages, den ich durchlaufen habe. Ein Arbeitstag ist ja auch fast wie eine Wanderung, äusserlich zwar relativ eintönig und alltäglich, aber innerlich, besonders wenn der Arbeitsalltag in einer psychiatrischen Klinik stattfindet, eine aufregende Reise mit ungewissen, teilweise auch aufwühlenden und gefährlichen Begegnungen.
Mika hechelt fast ununterbrochen. Mit seinem sibirischen Pelz ist ihm die Wärme, die jetzt auch noch 8 Uhr abends herrscht, eine enorme Belastung. Keine Wärme, die verbindet, eher eine, die ihn wegjagt, um einen einsamen Ort zu finden, der einigermassen kühl ist, auch wenn es tief unten im Keller sein sollte. Trotzdem kommt er ab und zu heraus auf den Balkon und schaut durch die Gitterstäbe in das Häusertal des Blumenweges hinunter. Dieses Tal in der Stadt wirkt momentan eher unbelebt. Man hört fliessendes Wasser aus einem Wasserschlauch und feines Spritzen aus einer Giesskanne. Der Himmel fällt langsam in die Nacht. Er ist ganz ruhig und klar, und die Sonne strahlt immer dunkler. Ab und zu höre ich noch das Ziepen der Mauersegler, die den Himmel von den Mücken bereits abgeerntet haben, und sich jetzt langsam in die Nacht zurückziehen. Eine raue Stimme eines Mannes, der entweder telefoniert oder seine Frau auf einem Balkon beschwatzt. Und natürlich ab und zu das auf- oder abbrausende Motorengeräusch von an- oder abfahrenden Autos oder Motorräder in den labyrinthischen Quartierstrassen. Die Welt ist gross; das Leben ist gross. Es ist so gross, dass es mich umfängt und hält und mich schützen könnte wie eine riesige Kirche, wenn ich mich ihm nur anvertrauen würde und einwenig darauf verzichten, zu glauben, ich müsste es kontrollieren. Das Leben ist wie eine Kirche, in die einzutreten, einen den Glauben und die Hoffnung kostet. Die Unmöglichkeit und Absurdität und Ohnmacht, das Erleben auch nur annährend zu beschreiben, fällt mich zwischendurch an wie ein wildes Tier. Sie lösen keine Lähmung aus wie früher oder einen Anfall von narzistischer Überheblichkeit; jetzt ist es eher ein Wundern, das ich da sein lassen kann, ein Erstaunen über diese gewaltige Kraft und Mächtigkeit. Die Geräusche werden dann gleichsam zur Haut Gottes und berühren mich so intim wie die Wärme des Steinbodens meine Füsse und tragen und halten mich im freien Fall des Bewusstseins.

Bild: Das Meer Gouache auf Papier, 1993

Ein Traum und eine Antwort aus dem Alltag

Lieber Martin

Seit dem 9. Mai habe ich fast täglich in deinen Blog hineingeschaut. Zuerst waren es die Hunde, die meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen, aber allmählich begann ich mich auch auf deine persönlichen Beiträge zu freuen. Es ist für mich gut spürbar gewesen, wie im Verlaufe dieser Wochen bei dir die Lebensfreude und die Zuversicht gewachsen sind. Diese Mischung macht diesen Blog einzigartig. Einerseits beschreibt er das Heranwachsen der Welpen mit wunderschönen Bildern, andererseits ist darin auch der Weg erkennbar, den ihr selbst in dieser Zeit gemacht habt, von tiefer Unsicherheit bis zum Entschluss, das Wagnis mit diesen sieben Huskys einzugehen, von einem grossen Vorhaben und dessen Umsetzung mit allen zur Verfügung stehenden Kräften. Und je mehr sich das gute Gelingen am Horizont abzeichnet, desto mehr sprudeln deine kreativen Ideen.
Dein Blog kommt mir im Nachhinein vor wie die Schriften, die in früheren Jahrhunderten von Mönchen verfasst wurden. Sie schrieben einerseits die Geschichte, in ihrem Fall wohl einen biblischen Text. Daneben aber schmückten sie die Anfangsbuchstaben der Schriften und die Ränder der Seiten mit allerlei wundersamen Bildern und liessen dabei ihrer Fantasie und ihrer Gestaltungsfreude freien Lauf.
Vorletzte Nacht hatte ich einen Traum: Mein Sohn und ich gehen mit den Hunden spazieren. Ayscha läuft vorne, wie sie es ihr Leben lang getan hat. Benja nehme ich nicht wahr, vermute aber, dass sie dicht hinter uns geht. Auf einmal sind auch alle eure Welpen dabei. Wir kommen auf eine mit Stauden und Buschwerk bewachsene Wiese. Plötzlich tauchen mehrere Katzen vor uns auf. Einen Augenblick stehen alle still, die Katzen, die Hunde und wir Menschen. Ich will Ayscha abrufen, aber da ist es auch schon zu spät. Die Katzen stieben auseinander, Ayscha hinterher. Als erster folgt ihr Tikaani. Und dann führt Ayscha alle zur Jagd.
Im Traum bin ich darüber verärgert und besorgt. Als ich aber erwache und feststelle, dass keiner Katze etwas passiert ist, steigt in mir allmählich Freude auf. Von früheren Erfahrungen weiss ich: Sobald ich von einer verstorbenen Person (in diesem Fall Ayscha) träume, ist es gut. Und ich spekuliere ein bisschen: Vielleicht war es gar nicht Tikaani, der als erster Ayscha nachgefolgt ist. Womöglich war es der achte Welpe?
Jetzt wird es dann wohl allmählich stiller werden auf der Welpenalp. Ich wünsche euch viel Kraft zur Bewältigung auch dieser Phase und eine gute Rückkehr ins Alltagsleben.

Herzlich

Catherine

Liebe Catherine

Welch ein schöner Traum! Seine Schönheit regt mich an, deinen Kommentar als neuen Blogeintrag zu benutzen und dir eine lange Antwort zu schreiben.

Dein Traum spielt in den Ewigen Jagdgründen (The Happy Hunting Ground), wo Ayscha (Die Lebendige) jetzt lebt.

Und wir auch. Nur erleben wir uns nicht dort. Wir grenzen die Ewigen Jagdgründe in der alltäglichen Realität aus. Wir tun so, als würden sie nicht existieren oder uns nichts angehen oder vielleicht irgendwann mal in ferner Zukunft.

Erst wenn ein Wesen, zu dem wir eine Bindung aufgebaut haben, stirbt, dann trifft das die Selbstverständlichkeit unseres Selbstbildes schockartig und erschüttert unseren Verstand, unser Ich denke, also bin ich. (Descartes)

Denn unser Verstand funktioniert hauptsächlich in der alltäglichen Realität gut; er kann nicht viel anfangen mit den Ewigen Jagdgründen, mit den anderen Welten; die kann er nicht wirklich begreifen.

Die Träume aber tauchen auf aus den Ewigen Jagdgründen wie die Blasen vom Grund des Glases voll frischem kohlensäurenhaltigem Mineralwasser auf dem Tisch. Wenn wir auf das Träumen achten würden, anstatt es ständig ob all unseren vielen Alltagspflichten und -sorgen wegzuschieben, dann könnte es uns wieder an die tiefe Vielfalt, an all diese zahllosen Parallelwelten, an das Ganze, an das Heilige und Heilsame, an die vollkommen einfache Grundstruktur des Lebens erinnern, und wir könnten es als genauso wertvolles Erleben zulassen, begleiten und unterstützen wie unser Erleben der Alltagswelt.

Und unser Leben würde wieder voll Zauber, Wunder, Synchronizitäten und gespürten Verbundenheiten. Es würde nicht nur reicher sondern auch freier. Wir könnten besser atmen. Wir würden dann nicht nur die Luft der Alltagsrealität atmen, sondern auch die der anderen Welten. Wir hätten wieder den Traumatem, den Todesatem, den Geburtsatem, den Schlafatem und natürlich den Hundeatem.

Hunde sind die kraftvollsten Vermittler zwischen diesen Welten. Weil sie uns in der sozialen Struktur so ähnlich sind und weil sie wie kein anderes Tier so nah unseren Alltag teilen. Wir führen sie, wir schützen sie und arrangieren uns mit ihnen, damit sie in der anthromorphen Realität bestehen können und mit so wenig Leid als möglich leben dürfen. Schliesslich sind wir ihnen diese Verantwortung schuldig, denn wir haben sie aus ihrer Wolfs-Welt in unsere Mensch-Affen-Welt hinüber verführt, wir haben sie domestiziert.

Aber eigentlich, tief drin, in ihrer Grundstruktur bleiben unsere Hunde Wölfe und leben wie Wölfe. Das heisst, sie jagen auch im Alltag weiterhin in den Ewigen Jagdgründen.

In diesem Zusammenhang wird gern vergessen, dass das Wichtigste im Leben des Wolfes neben den täglichen ca. 16 (!) Stunden Schlaf mit all seinem Träumen, das Jagen in den Jagdgründen ist. Die Sexualität und all die Betrügereien, Tricksereien, Intrigen und Machtkämpfen, die unweigerlich damit einhergehen, lebt der Wolf nur drei Wochen im Jahr, weshalb sie sein Leben viel weniger bestimmen als das der Affen und das von uns Menschen. Diese wichtige Verschiedenheit zu uns und die Konsequenzen daraus hat der Philosoph Mark Rowlands im dem genialen Buch Der Philosoph und der Wolf  ausgearbeitet.

So findet das Wie im Leben des Hundes, sein strukturiertes inneres Erleben, das sein Handeln motiviert, immer noch dort statt, wo der Wolf jetzt lebt, und es findet dem Wolfsverhalten synchron statt. Deshalb ist es auch für das Verständnis des Hundeverhalten derart wichtig, den Wolf in der Freiheit zu beobachten. So verstehen wir sein Verhalten und fühlen sein Wesen.*
(Siehe die Bücher von Günther Bloch und Elli Radinger.)

Zum Beispiel kann die Frage, ob ein Welpe Welpenschutz hat, nicht nur über schmerzhafte Versuche oder gar aufwendige Experimente geklärt werden; die Antwort zeigt sich uns viel schlichter und eleganter mittels des gesunden Menschenverstandes (common sense), der das wölfische Verhalten beobachtet. Der allerdings scheint momentan genau so selten anzutreffen zu sein, wie der Wolf in unserem Land.

Wie begegnet ein Wolf einem Welpen? Wenn es einer aus seinem Rudel ist, dann wird er ihn schützen. Wenn es aber einer aus einem fremden Rudel ist, wird er ihn sofort töten. Deshalb hat auch ein Hund nur wirklichen Schutz innerhalb des eigenen Rudels, hingegen können Begegnungen mit fremden Hunden für den Welpen ganz bös enden.

Dass der Wolf in den letzten Jahren nun auch wieder seinen Lebensraum bei uns einfordert, ist im Grunde genommen auch ein Traum, den wir momentan kollektiv träumen. Der Wolf taucht wieder auf nach jahrhundertelanger Verfolgung, Ausgrenzung, Unterdrückung bis zur Fastausrottung, und nicht nur der reale Wolf in Italien, Deutschland und in der Schweiz, sondern auch der Wolf im Hund und der Wolf in unserer Psyche.
(Zum Beispiel in Clarissa Pinkola Estés Die Wolfsfrau.)

Denn auch im Hund wurde und wird weiterhin der Wolf als das Böse und Falsche ausgegrenzt und unterdrückt. Denk nur, was wir vom Hund alles als selbstverständlich abverlangen:

Er soll nicht jagen, keine Katzen, keine Hühner, nicht einmal Mäuse - die übertragen Krankheiten; er darf nicht natürliches Rohfleisch und Knochen fressen - die wissenschaftliche Werbung hört nicht auf, uns erfolgreich vorzugaukeln, der Hund bleibe nur gesund, wenn er ein Leben lang die gleiche industrielle Trockennahrung schlucke, die ein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, nur schlucken würde, wenn er sich auf der Reise zum Mars befände; er soll schon vor der Pubertät seine Eier abgeben - die er dann ausgewachsen mit etwas Glück als Kunsteier wieder montiert zurückkriegt, zumindest in der USA; er darf keine Stehohren mehr haben, keine wolfsähnliche Schnauze mit den imposanten Zähnen, sondern ein Jö- oder Affengesicht; er soll eh kindlich bleiben und darf nicht erwachsen werden; er darf nicht mehr gross und selbstsicher sein; er darf nicht raufen, knurren, kämpfen; er darf seine Grenzen und sein Territorium nicht schützen; nicht Respekt von andern einholen; er muss an der Leine laufen, darf nicht streunen; er darf keine Menschen erschrecken - die Angst des Menschen vor dem Hund ist heilig, aber die Angst des Hundes vor dem Menschen muss ihm als vom Teufel ausgetrieben werden; er darf nicht als Familienorganisation (Vater und Mutter) seine Welpen aufziehen - kurz, seine innerste Struktur, seine wilde Wolfsnatur wird fortwährend unterdrückt, imperialisiert, kolonialisiert, marginalisiert, ausgebeutet.

Das läuft wie ein Virenprogramm im Hintergrund eines Computerbildschirms schon seit Jahrhunderten unter dem euphemistischen Begriff der Domestikation. Euphemistisch deshalb, weil wir das nicht sehen, weil wir in unserer Anthropozentrik das andere Wesen permanent vergessen; es ist unbewusst, ausgeblendet, genauso wie wir unsere Körperempfindungen und -impulse, unsere Gefühle, unsere Träume, Phantasien, Instinkte, das intuitiv Gespürte, den Felt Sense (Focusing), unsere Buddha-Natur fortwährend ausblenden.

Wenn wir den Mut hätten, genau hinzuschauen, würden wir sehen, wie wir den Hund immer noch tagtäglich benutzen und missbrauchen; früher und in anderen Ländern noch tendenziell mehr als Sache, heute in unserer Kultur vermehrt narzistisch emotional.

Zum Beispiel dieser Mann, der, 90 Jahre alt und nicht mehr wirklich mobil, sich übers Internet einen Labradorwelpen kauft. Alle, auch seine Frau, haben ihm gesagt, er solle das lassen, er sei nicht mehr in der Lage, angemessen zu einem solchen Hund zu schauen. Aber der alte Mann lebt nicht mehr wirklich in der Realität. Er vermischt die Welten und merkt es nicht. So wie eine Magersüchtige sich im Spiegel als dick sieht, so sieht er sich im Spiegel nicht als greiser, gesundheitlich angeschlagener, nicht mehr mobiler Mann, der langsam aber sicher auch körperlich in die ewigen Jagdgründe aufbricht; sondern er sieht sich als jung und vital und behandelt die Umgebung, seine Mitmenschen dementsprechend. Da seine Frau neben ihm derart alt aussieht, muss er sie natürlich dauerverachten.

Er macht das, weil er dem eigenen Schmerz nicht in die Augen sehen kann, dem Schmerz über den Tod des alten Hund, der vor nicht langer Zeit gestorben ist, dem Schmerz über den allmählichen Kontrollverlust, über das Schwinden der Lebenskräfte, dem Schmerz der starken emotionalen Verwahrlosung aus der eigenen Kindheit. Er hat keine Werkzeuge und Hinweise mitbekommen, wie man eine gute Beziehung aufbauen kann mit der inneren Welt. Er hat eine starke, äusserlich auch erfolgreiche Einseitigkeit entwickelt, lebt, obschon wohlbemittelt, in einem konstanten Gefühl des Mangels und hat den Kontakt mit seinem inneren Reichtum längst verloren. Und weil er seinen Schmerz innerlich permanent unterdrückt und bekämpft, blüht dieser im Untergrund. Er wird zu seiner Austrahlung und beginnt als Schmerzkörper wie ein Monster sich vom Schmerz in der Umgebung zu ernähren, den er dort erzeugt, weil der Mann ihn selbst nicht fühlen will.
(Eckhart Tolle hat diesen Mechanismus gut beschrieben.)

Und was macht die Umgebung? Sie ist genauso hilflos. Sie kann diesen Schmerz auch nicht wirklich fühlen und übt sich in, was Ken Wilber treffend ausdrückt, idiotischem Mitgefühl.

Das heisst, die Umgebung nimmt ihm jetzt nicht etwa den Welpen weg, eine ethisch richtige Handlung, die nötig wäre, um das Tier zu schützen und diesen Mann auch, um offensichtliches, durch diese heillose Überforderungssituation sich persistierendes Leid zu mindern, sondern unterstützt ihn nun mit verharmlosenden und betäubenden Aussagen wie: Seine Frau wird schon zu dem Kleinen schauen. Man darf sich jetzt nicht in sein Leben einmischen. Ihm diesen kleinen herzigen Welpen wegzunehmen, würde ihm das Herz brechen.

Aber das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern gut gemeint.

Tucholsky

Und genau das beschreibt idiotisches Mitgefühl. Wir fühlen nicht wirklich das Leben, unsere Gefühle, die Gefühle der andern, sondern geben vor, wir würden, indem wir eine Vorstellung vor und über das Leben stellen.

Nun ist aber nicht die Vorstellung das Problem, sondern das Problem ist die unbewusste Identifikation mit der Vorstellung und der damit einhergehende Kontaktverlust mit dem Leben und dem Fühlen.

Zum Beispiel die Aussage, die jemand in einem Kommentar in diesem Blog geschrieben hat: Es gibt so viele arme Hunde im Tierheim, deshalb ist es doch unverantwortlich noch weitere Hunde zu züchten.

Der erste Teil des Satzes ist eine mehr oder weniger überprüfbare Tatsache. Es stimmt, es gibt viele Tierheimhunde, die auch oft schlecht gehalten werden. Der andere Teil hingegen ist eine Vorstellung, mit der man identifiziert ist, und die über das Erleben gestülpt wird, und zwar, um es zu vermeiden.

Das Erleben wäre: Der Schmerz darüber, dass es so viele Tierheimhunde hat, die in schlechten Verhältnissen leben, und die mit diesem emotionalen Schmerz einhergehenden starken primären Gefühlen, wie Angst, Wut, Trauer, Ohnmacht etc. Dieser Schmerz und die Gefühle werden in dem Moment aber nicht wirklich gefühlt und erlebt. Das Erleben des Schmerzes wird vermieden, unterdrückt und marginalisiert, und mit einer moralischen es sollte-Vorstellung ersetzt, die niemals wahr sein kann, da sie keinen Boden unter den Füssen hat und keinen Kontakt mit der Wahrheit des Augenblicks, der Sinneswelt besitzt.

Der nicht gefühlte Schmerz und die ausgegrenzten Gefühle werden dann, natürlich unbewusst, entweder nach Innen oder nach Aussen projiziert, quasi weggegeben. Nach Innen, zum Beispiel, wenn ich jetzt meinem inneren Wunsch folgen würde, Hunde zu züchten, dann würde ich mich schlecht fühlen und von schlechtem Gewissen geplagt. Nach Aussen als Moral: All diese unverantwortlichen Menschen, die immer noch Welpen auf die Welt vermehren, obschon es so viele Tierheimhunde hat!

Anstelle des Erlebens - Erleben meines Leids, das mich dann verbinden könnte mit dem Leid all dieser vielen fühlenden Wesen auf diesem Planeten, echtes Mitgefühl wecken und zu ethisch sinnvollen Handeln führen - tritt die Vierte Welt, die Welt des Verstandes, des Denkens, der Vorstellungen, der Meinungen, der Kognitionen, der Moral, der Verbote und Gebote, der Regeln.

Und ohne es zu merken, leben wir in der Welt der Neurose, in dieser Mind-Made-Welt, in der Welt des Junk-Foods, des Trockenfutters, der Kartonnahrung, die nicht wirklich nährt, und die dann auch plötzlich mal fürchterlich Feuer fangen kann, was man dann etikettiernd Burnout nennt.

Moral ist ein Symptom dieses Kontaktverlust zum eigenen Selbst. In Büchners Woyzeck gibts diese treffende Definition:

Moral ist, wenn man moralisch ist.

Das beschreibt präzise dieses Mindfucking, dieses ständig wiederholende Kreisen der Gedanken (im Focusing nennt man das strukturgebundenes Erleben) der vierten Welt,
das unsere Kultur so grandios kultiviert: Schlechtes Gewissen, Schuldgefühle, wenn- und hätte ich doch-Sätze, Vergleiche mit den Anderen, all diese Selbstquälereispiele, mit denen die Selbstzerfleischung und Selbstzerhirnung auf exzellente Höchstleistung getrieben wird.

Das kann dann gegen Innen bös abgehen, nicht nur in ein Burnout, sondern direkt in den Hades einer abgrundtiefen Depression oder zu Selbstverletzungen, starker Sucht oder sogar Suizid führen. Oder noch böser nach Aussen: Wieviel Leid und Krieg sind doch aus solchen, ursprünglich gut gemeinten Vorstellungen entstanden! (Kommunismus, Übermensch der Nazis, Heilige Kriege etc.)

Da das Leben mittels einer moralischen Vorstellung nicht abgeholt wird, d.h. nicht bewusst erlebt und begleitet werden kann, kann auch kein nächster guter Schritt passieren. Das Erleben bleibt stecken und bildet neurotisch stinkende Pfützen ausserhalb des Lebensflusses.

Würde der Schmerz gefühlt und sinnhaft verbunden mit dem eigenen Schmerz von früher vielleicht, wo man sich auch wie ein armer Tierheimhund ausgegrenzt, verlassen und verwahrlost erlebt hat, dann könnte aus diesem Erleben ein nächster Schritt kommen, der einem sagt, was gut ist, quasi ein ethisch abgestimmter Schritt:

Das könnte durchaus die Wahl eines Tierheimhundes sein, das könnte aber auch all dieser Aufwand sein, den wir jetzt hier auf uns genommen haben, um dieses wunderbare Mysterium der Hundegeburt hautnah zu erleben.

Mit anderen Worten: Wir müssen den sauren Apfel vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen wirklich ganz zerkauen und runterschlucken. Die Dualistische Sicht des Verstandes auf die Welt muss vollständig durchschaut und verdaut werden.

Bedingung dazu ist das mit dem Aussen verknüpfte beharrliche Nach-Innen-Schauen. Dabei stösst man unweigerlich zuerst auf das, was man weggelebt hat, auf die vergrabenen Hunde, die Leichen im Keller und die Armen Seelen. Das zu sehen und zu erleben und dann diese Teile langsam zu befreien und ans Tageslicht des Bewusstseins zu holen, tut schrecklich weh, ist eine Ohrfeige nach der anderen, wie jemand einmal Selbsterkenntnis definiert hat. Doch durch diese jahrelange Knochenarbeit kann es dann plötzlich passieren, dass das Ganze des Lebens als bedingungsloses Wunder des Sowohl-als-Auch gesehen wird. Und man erlebt sich glücklich wandernd durch die Ewigen Jagdgründe. Und es war nie anders. Und es wird nie anders sein.

Dostojewski hat das schön beschrieben:

Alles ist gut...Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiss, dass er glücklich ist. Nur deshalb! Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick....

Zurück zum Beispiel des alten Mannes, der sich den Welpen gekauft hat, obschon er dessen Bedürfnissen nicht gerecht werden kann.

Man könnte sagen. Er sieht den Hund nicht als Hund. Er sieht in ihm seine Sehnsucht, eine Schmerzlinderung, ein Mittel seinen inneren Mangel zu stopfen, ein Mittel sich das Jungsein weiterhin vorzugaukeln, ein Betäubungsmittel. Was der Hund braucht, kann er nicht mehr sehen, deshalb wird hier der Hund grob missbraucht. Man könnte das auch so formulieren, dass dieser alte Mann innerlich überflutet wird von zu vielen Emotionen, die von seine verdrängten Geistern ausgesandt werden. Die emotionale Welt bricht allmählich in seine Persönlichkeit ein und führt zu einem mehr oder weniger starken Realitätsverlust.

Seine nahe Umgebung kompensiert co-abhängig seine Einseitigleit mit der Haltung: Ein Hund ist ein Hund. Nur ein Hund. Und weil ein Hund nur ein Tier ist, kein wertvoller Mensch, wie zum Beispiel mein eigenes Kind, ist es doch nicht so schlimm, wenn der Welpe jetzt dem armen alten Mann hilft in seinen letzten Lebenstagen noch etwas glücklich zu sein und dabei halt etwas leidet, schliesslich leiden noch viele andere Tiere auf diesem Planeten, und die letzte verbürgte Hundschlachtung in Deutschland fand 1986 in Augsburg statt. (Siehe: Michael Grewe Hunde brauchen klare Grenzen)

Diese materialistische Haltung ist zutiefst anthropozentrisch. Sie ist eine Schutzhaltung. Ich kultivierte sie früher auch, denn sie ist so bequem. Sie baut eine eiserne Festung ums Herz. Eisenhans wird eingesperrt, die Wolfsfrau verbannt. Sie schützt vor dem Fühlen des Schmerzes. So fand ich es früher, auch wenn ich es nicht immer sagte, lächerlich und vermenschlicht, wenn Leute lang und heftig wegen ihrem toten Hund oder ihrer toten Katze trauerten.

Einmal hatte ich in der statinoären Therapie der Klinik eine Patientin, deren Katze schwer erkrankt war. Daheim wollte aber niemand wirklich Verantwortung übernehmen. Ihr Mann wollte sie sofort einschläfern lassen, ihr Sohn weigerte sich. Als mir die Patientin das erzählte, verstand ich plötzlich, dass die Katze die Patientin rief, sich um sie zu kümmern, und sie mit Bewusstheit in den Tod zu begleiten. Die Katze wollte der Frau das Sterben zeigen. Die Frau verweigerte auch das Sterben eines Teils von sich und war deshalb in einer Depression erstarrt, genauso wie der Mann und der Sohn daheim einen nächsten Schritt blockierten. Die Frau ging heim, ging mit der Katze zum Tierarzt und erlebte das Sterben ihrer Katze. Und ich erkannte meine arrogante Haltung von eine Katze ist eine Katze. Das war für mich der Beginn meine anthropozentische und egozentrische Ansicht Tieren gegenüber ins Gesicht zu schauen. Ich erinnerte mich, dass ich als Kind Tiere über alles liebte und ursprünglich Tierarzt werden wollte. Der nächste integrative Schritt war dann das Auftauchen von Kaya in mein Leben.

Beide Haltungen dem Hund gegenüber sind deshalb falsch, weil sie einseitig sind. Sie zeigen nicht tiefer. Sie bleiben getrennt. Sie bauen keine Brücke, sie haben keinen gemeinsamen Boden (felt sense im Focusing). Sie erreichen deshalb nicht die Vielseitigkeit des Ganzen. Sie berühren nicht den Grund der Wahrheit und führen unweigerlich zu Verwirrung und Moral - dem hilflosen Versuch des Verstandes, wieder Klarheit in die Verwirrung zu bringen - und zu Leidanfälligkeit, die in jeder Monokultur implizit angelegt ist.

Wenn der Hund sowohl als Hund, als auch nicht als Hund gesehen werden kann, dann wird er zum Psychopompos, zum Seelenfüher, zum Vermittler und Botschafter zwischen den Welten, wie du es jetzt erfährst mit Ayscha, der Lebendigen im Traum. Der Hund hilft dir klar zu bleiben, luzid im Hinblick auf die Welt, in der du dich grad aufhälst, und du kannst die Aggregatzustände deines Bewusstseins leichter wechseln. Dein Hund zeigt dir wie kein anderes Wesen die Wahrheit des Augenblicks, er gibt dir das Wahre und du nimmst das Wahre von ihm, du nimmst durch ihn wahr und du weisst, dass es reine Energieverschwendung ist, dich dermassen in den Vorstellungen zu drehen und der Moral zu verfallen, stattdessen opferst du deinen Verstand, verlierst ihn einwenig und wendest dich wieder deinem inneren Erleben zu, den Gefühlen, den Körperempfindungen, dem Felt Sense, dem Happy Hunting Ground deines Körpers.

Das Bewusstsein der Ewigen Jagdgründe ist ein Bewusstsein des Todes, des Verfalls, der Nichtigkeit, der Vergänglichkeit, der Leere von allem. Das Fleisch konfrontiert uns damit, das Rohfleisch, die Verwesung, Maden. Wenn du deinen Hund mit Rohfleisch fütterst, dann kommst du in Kontakt mit dem, und es kann durchaus passieren, wie uns hier oben auf der Alp, dass du Maden begegnst. Es ist eine Art Leichenfeldbetrachtung im Alltag.

So schaut dich deinHund schaut morgens an und erinnert dich an dein Körperdasein, daran, dass deine blossen Füsse in Wirklichkeit nicht in Schuhen sondern auf dem Boden der Ewigen Jagdgründe stehen.

Und wenn du bereit bist, ihm wirklich in die Augen zu schauen, seinen unbegreiflichen Blick, den du nie verstehen wirst, auszuhalten mit deinen eigenen neugierigen von den Nachtträumen gewaschenen Augen...

Und wenn du zudem das Glück hast, einen guten Hund zu haben, einen, der noch stark verwurzelt ist in den Ewigen Jagdgründen, einen instinktsicheren, noch nicht qualverzüchteten und veroperierten...

...dann erinnert er dich an die Ewigen Jagdgründe als Grund von allem Leben, und wölfischböse wird er dir nicht gehorchen, so wie Ayscha in deinem Traum; er wird zu deinem eigenen Doppelgänger, deinem inneren Verbündeten, deinem Seelenzwilling; zum Daimon, der als Dämon und Symptom dein Leben durcheinanderbringt, um dich an den Weg zu erinnern; er wird zum Engel, mit dem du ringen musst, um den Segen des Lebens zu erhalten; er stört dich; er jagt, wenn er nicht sollte, und sogar, wenn er einer Rasse angehört, der das angeblich weggezüchtet worden ist; er haut ab und streunt; er reisst dir die Leine aus der Hand, damit sie brennt, und du dich um deine Hand und dein Handeln kümmerst; er pöbelt andere an, um dich daran zu erinnern, dass wir Gefühle haben; er arrangiert Konflikte mit andern Hundebesitzern und sogar mit Hundehassern, damit wir miteinander reden; er mischt den Bodensatz unserer Gefühle zum Chaos auf - Chaos wunderlicher Sohn, der er ist - um uns zu erinnern, dass wir fühlende Wesen sind und uns um unsere Gefühle kümmern und diese achtsam und liebevoll wie Welpen behandeln. Warum? Weil wir leben, weil wir auch unbegreifliches, fühlendes Leben sind, genauso wie er, aber im Unterschied zu ihm, darüber reden und schreiben können.

Zum Schluss möchte ich Dir noch ganz besonders danken für diese schöne Metapher des Mönchs, der in der Klausur die heilige Schrift abschreibt und die Buchstaben verziert. Ich bin mir sicher, dass du diese Metapher mit Ayscha in den Ewigen Jagdgründen erjagt hast.:-)

Denn genau so ist mein Bloggen hier in der Welpenklausur! Die Hunde halten meinen Blick gegen Innen, und ich bin in gutem Kontakt mit meiner Innenwelt. Zudem ist dieser Ort mit der Lichtung zwar kein Kloster, aber doch wie ein Zentrum der Stille und Abgeschiedenheit in der Natur.

Und etwa vor einem Monat habe ich den Satz hingeschrieben, dass meine Aufgabe in diesem Blog ist, die Geschichten, die das Leben schreibt, abzuschreiben.

Und jetzt weiss ich, dass ich die Grossbuchstaben mit den Fotos, den Geschichten und Gedichten und den Bildern verziere.

Herzlich

Martin

* Was ich aber als unethisch ablehne, ist die Haltung des Wolfes in der Gefangenschaft und die im Moment der Hirnmodellmode so beliebte kognitive Verhaltenstherapie mit all diesen Experimenten. Aus dem simplen Grund, weil der Lebensraum das Verhalten diktiert, und das ganz besonders beim Wolf. Der Wolf ist nur Wolf mit seinem Jagdgrund. Sobald dieser verändert wird: Gehegehaltung, keine Möglichkeit zu Jagen oder gar das brutale Wegnehmen der Jungen aus dem Bau, um sie auf den Menschen zu prägen, wird das Wesen des Wolfes stark verfälscht.
Die Erkenntnisse, die diese Tierexperimente bringen, lohnen den Aufwand und den Schmerz der Tiere nicht. Für mich ist das auch keine Wissenschaft mit Tiefe, sondern eine oberflächliche Flachlandwissenschaft; sie bringt der Seele so wenig wie Junkfood dem Körper.

Bild: Ruhen bei der Sphinx Gouache auf Papier, 1992

Tanz der Teetassen

Heut Morgen
sind den Liebenden
die Teetassen entwischt
Jetzt tanzen sie
am Himmel
für dich
Schau hin
sie schweben da
nur einen Teeschluck lang
Unsinnige Leute
bejagen sie
als Unbekannte
Fliegende Dinge
Sinnige
vermissen hingegen
ihre Spiegelbilder im Tee
und finden sie jetzt
in jedem Gesicht
Eine alte Frau
hat auch nicht mehr
alle Tassen im Schrank
Vom Hausdach aus
will sie
die Getürmten
vom Himmel holen
Doch Herr Engel
die ungelebte Liebe
in ihrem Leben
klammert sie dort
beharrlich fest
und trinkt
ihren herben Tee
so ganz entzückt
wie nur
ein Engel
trinken kann
Heut ist der Himmel
voller Teetassen
Sie schweben
über uns
für dich
Und die Engel
haben das gleiche Problem
Ihnen sind
die Gloriolen entwischt
Jetzt tanzen sie
auf Erden
über jedem Gesicht

Bild: Teetassentanz Zeichnung auf Teebeutelpapier

Vorstadtblues

Über der Vorstadt
flimmert der Himmel
wie die Filmleinwand
nach dem Abspann

Aug um Aug
stirbt den Passanten
das Schauen

Wie Blinde
mit den Regenschirmen
gen Himmel
tasten sie sich
nach Hause

Im Birkengeäst verletzen sich
die Regentropfen

Unter den Dolendeckeln frohlockt
das Abwasser

An den Buchenhecken
hängen noch
tote Blätter
vom Jahr zuvor
braun und schwer
wie nasse Hundezotteln

Jedes Auto wirft
Gischt auf
die trüb
 über
die Gehsteige spült

In den Tannenwipfeln
ratschen die Raben
ihre pechschwarzen Seelen
aus den Leibern

Und obschon auf den Wiesen
die Bauprofile ballettieren
und abmessen
zur Himmelnahme
im kommenden Frühjahr

Applaudiert niemand

Marcello Mastroianni liegt im Sarg

Intonieren die gelben Aushänge
im Chor der Kioske
die aus der Stadt schiessen
wie ockerfarbige Pilze

In den Einfamilienhäusern
dröhnen die Heizungskessel

Und hie und da
beglückt dich

Einer Amsel
frierendes Zwitschern

 

 

Bild: An Land gebundene Wolke Zeichnung

Der Zungenkuss

Einssein ist Wirklichkeit und Getrenntsein ist Wirklichkeit. Es ist eine Frage der Ebene, von denen aus du die Welt betrachtest. Empfindest du dich als körperliches Wesen, so erlebst du dich und deinen Geliebten als getrennt; im Herzen jedoch kannst du Verbundenheit erleben, die sich aus einer tiefen gemeinsamen Quelle des Seins nährt. Allerdings kannst du dem Schmerz des Getrenntseins nicht entrinnen, indem du dich auf die Ebene des Herzens begibst; der Schmerz ist vielmehr das Tor, das du durchschreiten musst, um ins Herz zu gelangen. Gibst du dich deinem Schmerz bewusst und ohne Gegenwehr hin, trägt er dich in die Wirklichkeit von Liebe, Schönheit und Verbundenheit hinein.

Safi Nidiaye

Bild: Der Zungenkuss  Ölkreide auf Papier, gezeichnet im Alter von 5 Jahren, stellt wohl meine Eltern dar.

Ostern 1984

Angst nach einer Blume
am Abend

Und tote Fliegen
auf dem Tisch

Die Hunde bleiben draussen
und drinnen bleibe ich

Jeder Spiegel
ist ein weiteres Ich

Und jeder Andere
ist der Spiegel

Woher kommen
die Worte?

Woher kommen
die Gedanken?

Woher kommen
die Gedanken über die Gedanken?

Reinkarnation ist jetzt
Ich bin der Andere

Ich bin das verzehrte Osterlamm
Ich bin der zersplitterte Schokoladenhase

Ich bin Jesus Christus
der himmlische Wolf

 

 

Bild: Angst nach einer Blume Tinte auf Papier, ca. 1972

Kleine Kreuzigung

Ihr macht einen grossen Fehler, wenn ihr Gott nur für das Schöne und Gute dankt, das er euch antut, ihr müsst ihm auch für das Schlechte und den Schmerz danken.

Shri Ramana Maharsi

Bild: Kleine Kreuzigung Bleistift auf Papier, 1987

In meiner Brust

In meiner Brust, welche Not! Jemand klopft, klopft hinter den Rippen, klopft als wären`s Planken, Planken eines Tors, klopft um Einlass, klopft sich tot, klopft, was soll`s, klopft ununterbrochen, klopft, und die Verzweiflung schleudert seine Fäuste, klopft rasend, Tag und Nacht, klopft so, als wär Klopfen das A und O, klopft dann ruhiger, von längeren Pausen durchsetzt, die er aber nur nutzt, die Kraft seiner Schläge zu verdoppeln, um in rascher Folge zu klopfen wie kurze Atemstösse Liebender. Unermüdlich klopft er, gibt keine Ruh, hämmert die Tür, klopft wohl schon seit dreissig Jahr, klopft, wie halt ich`s nur aus! Klopft, als wär er schon von Rippen zerspiesst, klopft sich die Fäuste wund, klopft sich den Schmerz taub!
Und nur manchmal, wenn meine Seele in den Dingen ertrinkt, hör ich ihn nicht, und Ruhe täuscht mich, flüstert Frieden. Dann aber, wenn ich abends schwer und träg dem Lärm des Tages wie einem abgestandnen Bad entsteigen will: Was war das? Ich horche:
Es klopft. Hör nur, wie er wieder klopft! Wie er sein Rufen niederklopft! Wie er seine Botschaft überklopft! Wie er den Frieden erschlägt! Wie seine Fäuste niederprasseln, getrieben von der Kraft der Wahrheit! Ja! Er klopft. Er klopft noch in meinen Träumen, fliehen nützt nichts, er sucht mich in Häusern auf, klopft das verrammte Tor, klopft die versperrte Tür, klopft die verriegelten Fensterläden, klopft, dass sie bersten wollen!
Soll ich ihn reinlassen? Vom Klopfen bedrängtes Gleichgewicht! Auf der Kippe zu diesem Entschluss lebe ich. Was, wenn ich ihm die Tür öffnete? Was würd er anrichten? Er, der schlägt, als bete er an der Himmelspforte? Welche Verzweiflung peitscht ihn? Welche Not jagt ihn? Kann ich ihm nachfühlen? Ist sie auch meine? Soll ich ihm öffnen? Ihn umarmen? Wer ist`s? Wer ist`s? Mörder oder verlorner Sohn?

 

Als kleines Kind hätte ich einmal meine Mutter gefragt, was in meiner Brust so klopft. Als sie mir erklärte, dass darin ein klopfendes Herz wäre, hätte ich vor Angst geweint.

Bild: Wie es im Menschen aussieht gezeichnet im Alter von ca. 8 Jahren

HUHN

Gewiss habe ich in meinem Leben schon mehr als hundert Mal das Wort Huhn geschrieben, meistens mit Bleistift oder Kugelschreiber; einige Male mit schwarzer Kohle an rauher Mauer oder mit weisser Kreide auf Strassenasphalt; ein paar Mal haben es meine Finger über Schreibmaschinentasten in das blanke Blatt getanzt; in letzter Zeit floss es auch schon so leicht wie ein hastig gestürztes Glas Bier in den unendlich durstenden Bildschirmraum der Computervirtualität; einmal - aber da bin ich mir nicht mehr so sicher - habe ich es am Strand von Ligurien von Hand in den Sand gestrichen und danach - und das kommt mir jetzt vor wie ein Traum - mit den Fingern in die spiegelnde Oberfläche des still mich wiegenden Meeres.
Von all diesen vielen Fällen darf ich mit einem gewissen Stolz behaupten, dass ich das Wort jeweils fehlerlos niederrang, mit grosser, selbstverständlicher, traumwandlerischer Sicherheit. Es ist ja auch ein simples Wort; ein Wort bar jeglicher vertrackter Orthografie.
Doch wie das Simple sich unversehens in Tücke verwandeln kann, demonstrierte sich heute, als wieder einmal die Zeit da war, mich ihm anzunehmen.
Kann durchaus sein, dass das Zundhölzchen des Unheils darin lag, dass ich zum ersten Mal beschloss, es durchgehend in Grossbuchstaben niederzuschrieben. Ich hatte mir wohl ausgedacht, damit seine Wirkungskraft zu verdoppeln, auf jeden Fall - ich schriebs hin, hielt inne, lüpfte den Kugelschreiber weg, um es eingehend zu mustern, leicht misstrauisch auch, denn ich wollte sicher gehen, dass mir trotz aller Sorgfalt, die ich beim Schreiben anzuwenden pflege, kein Fehler unterlaufen sei, und war auch begierig zu sehen, wie ihm diese ungewohnte Form der Grossbuchstaben stehe.
Aber zu meiner grossen Bestürzung schmetterte es meinen Blick unverzüglich zurück, indem es mich seinerseits so namenlos anguckte, dass es mir geradezu auf die Brust drückte und ich sogar einen Augenblick lang nach Luft ringen musste.
Ich erkannte das Wort nicht mehr, es war mir fremd geworden. Ich rief: „Was habe ich da in die Welt gesetzt!“ Doch das half auch nichts, seine Namenlosigkeit sass bereits so selbstverständlich in meinem Hirn wie eine Henne auf ihrem Ei. Ich konnte zwar noch die einzelnen Buchstaben entziffern, aber diese zu einem Wort zusammenfügen, das mir irgend einen Sinn gäbe, misslang.
Ich geriet in die grösste Verwirrnis. Und die absurde Vermutung begann mich zu bekriechen, dass das Wort gar noch nicht zu Ende sein könnte, dass das Ende nur im weissen Meer des Blattes ertrunken sei. Meine Augen taten verrückt, sie blieben an diesem verwunschenen Ende des Wortes stocken, scheuten und stürzten zurück zum Anfang und begannen, da das Wort quasi einen Anfang nimmt, aber kein Ende, begannen dort die Flucht erneut, flüchteten zum Ende, das sie für den Anfang hielten und so weiter, hin und her, unzählige Male, bis ich mich drehte im Schwindel, unmöglich über dieses Wort hinwegzukommen, weiterzuschreiben, auch wenn ich erst am Anfang meines Briefes bin, erst beim zweiten Wort, und meine Seele übervoll.
Nicht einmal zum ersten geschriebenen Wort zurück kann ich, sehe es zwar von weitem wie eine rote Boje in der Weite des unendlichen Ozeans - und hätte es doch als Sprungbrett benutzen können! - , sattdessen ertrank ich in den Fluten der Bedeutungslosigkeit.

So ist auch heute wieder nichts aus dem Brief an meine Exfreundin geworden.

 

Bild: Selbstportrait Ölkreide,  gezeichnet im Alter von 5 Jahren

Mit deinen Tränen

Mit deinen Tränen
sorgfältig eingefangen
von den Scherben
deines gebrochenen Herzens
tränkst du
das dürstende Meer

 

Bild: Der Kuss des Meeres Bleistift auf Papier, ca. 1987

Selbstmord eines Vogels

Ein Vogel beschloss. Ein Vogel beschloss; ein Vogel beschloss, Selbstmord zu begehen. Den geeigneten Ort hatte er schnell erflogen: die Nationalstrasse 1, dort, wo sie sich mehrere Kilometer lang so gerade über eine unbehauste Ebene zieht, dass sie in Kriegszeiten schleunigst in eine Flugpiste verwandelt werden kann. Die Pappeln, die an der einen Strassenseite entlang wie gereihte grüne Kerzen flackern, müssten dann allerdings gefällt werden, aber das kümmerte den Vogel wenig, er zog es vor, sich allein dem Gedanken hinzugeben, wie es ihm gelänge, seinen Entschluss in einen Plan umzusetzen und diesen Plan in die Tat; eine Tat übrigens, die ein wahrhaftes Kunstwerk abzugeben hätte, und, weil sie in der Vogelwelt einzigartig wäre, gar den stummen Himmel zum jubilieren bringen würde vor Entzücken.
Der Vogel hatte sofort erkannt, dass er sein Werk mittels denjenigen Bedingungen bauen musste, die ihm seit frühester Kindheit vertraut waren. Da er sich vor nicht allzu langer Zeit auf einer dieser Pappeln aus dem Ei gesprengt hatte und im Zwischenraum zur nächsten flügge gefallen war, verstand es sich von selbst, dass diese beiden Pappeln den Moment seines Todes wie zwei Wächter flankieren würden. Mit diesem Todestor als Ziel rollte er sich den ganzen Plan schon bald im Geiste aus wie einen kunstvoll gewobenen fliegenden Teppich: Mittels eines steckengeraden Anflugs autobahngleich auf die Autobahn zufliegen, den ausgewählten Pappelzwischenraum golden und die Autobahn in einem exakt dreiunddreissigkommadreidrei…gradigem Winkel schneiden, um dann im Zusammenstoss mit einem Auto sein Leben zu lassen, es gleichsam zu Ende krönend!
So einfach nun sein Plan klingen mochte - und alles Geniale, das wusste er, ist einfach , - dessen Umsetzung in die Wirklichkeit, sozusagen Flügelschlag um Flügelschlag, war kein Kinderspiel. Da mussten mannigfaltige Einflüsse erkannt und einberechnet werden, zum Beispiel die Winde, die je nach Richtung und Stärke verschieden in die Kräfte des Anflugs griffen und jeweils fein abgewogenen Ausgleich verlangten.
Bis er diesen Anflug mit nachtwandlerischer Sicherheit beherrschte, vollbrachte er unzählige, zähe, immer wieder misslingende Probeflüge, alle um zwei Meter höher gemessen, als der entscheidende, wollte er doch eine verfrühte Kollision mit einem zufälligen Auto vermeiden, schliesslich war er zwar ein kleiner, unbedeutender Vogel aber mit grossem Bewusstsein. Zu erwähnen sei auch, dass ihn dabei niemand unterstützte, zudem war es ihm kaum möglich, die ganze Zeit seinem Meisterwerk zu opfern, denn schon ein gewöhnliches Vogelleben, wie es die Vogelschaft um ihn betrieb, war naturgemäss sehr anstrengend, geschweige denn sein ungewöhnliches. Insbesondere im Winter reichten die nur kurz aufflackernden Tage kaum aus, soviel Nahrung zusammenzupicken, dass wenigstens das Überleben garantiert blieb, wobei an sein Werk nicht einmal zu denken war; verständlich, dass er bald missmutig wurde und den Frühling mit Erleichterung empfing und sich mit viel Freude und Dankbarkeit in die knospende Ebene und anschwellenden Tage schmetterte, die ihm endlich wieder die Zeit zur Verfügung stellten, seine Übungsflüge aufzunehmen und an seinem Werk weiter zu bauen.
Doch dann wurde er von etwas Unvorhergesehenem überrascht, von einer Unannehmlichkeit, die dem Frühling auf den Fersen gefolgt war, die ihm aber wahrscheinlich schon im Ei mit festem Dreh in den Körper geschraubt worden ist - sogar der Eifriede ist eine Täuschung! -, denn nicht anders konnte er sich erklären, dass er trotz heftigstem Widerstand all seiner körperlichen und geistigen Kräfte doch das Weibchen bestieg, das ihm der Zufall an den Leib gedrückt hatte und das ihm - überflüssig zu erwähnen - höchst zuwider war. Doch nicht genug, auch beim Nestbau musste er Schnabel anlegen und beim Brüten und Füttern der Jungen seine wertvolle Zeit zur Verfügung stellen. Und all das verdankte er dem, wie alle seine Mitvögel rundum sangen "Frohen Frühling"; er aber weigerte sich mitzusingen, der sogezwitscherte "Frohe Frühling" machte ihn alles andere als froh, machte ihn förmlich lodern vor Empörung; es nützte nichts, die verzweifelte Anstrengung, womit er sich gegen dieses tief in ihm eingerostete Gesetz stemmte, liess ihn abmagern und malte ihm grosse Schattenringe um die Augen.
Einzig und allein dank seinem eisernen Willen hielt er diese geprüfte Zeit durch, und tatsächlich, eines glücklichen Tages hatten ihn die Jungen verlassen und am nächsten Tag war - oh Wunder! - auch das Weibchen verschwunden. Er konnte sich wieder ganz seinem Werk widmen, und unterstützt von einem schönen Herbst und einem milden Winter raste sein Meisterwerk der Vollendung förmlich entgegen.
Als letzter Schritt ging es darum, die Autos, die tagaus, tagein die Nationalstrasse 1 durchjagen, auseinanderzuhalten, was dem Vogel dadurch gelang, dass er sich die einzelnen Automarken an den Emblenen einprägte, die jeweils bei den jagenden Fahrten über die Autobahn in der Sonne aufblitzten. Nicht lange und er kannte die meisten Marken und konnte die edleren, teureren von den gewöhnlichen, billigen unterscheiden. Er achtete darauf, ein Auto seltener, nobler Marke ausfindig zu machen, das fünf Tage in der Woche ungefähr zur gleichen Zeit die Autobahn duchfahre und zudem ein teures wäre und eines, das die Höchstgeschwindigkeit chronisch missachtete, denn auch der Vogel fühlte sich zuinnerst als grosser Rebell.
Danach benötigte sein Werk nurmehr etwas Kosmetik. Und als die Tage sich wieder zu türmen begannen und die Sonne von Tag zu Tag höher und höher in den Himmel rutschte, als also ein neuer Frühling dem Vogel an den Leib zu rücken drohte, der sich vor einer neuen Verwirklichung dessen, was er als entsetzliche Erfahrung schon in sich trug, förmlich schüttelte, kam auch der Tag, an dem er die übervogelsche Kraft fand, seinen Plan mit der Tat zu tauschen.
Als wären es goldige Meissel schlugen ihm die ersten Sonnenstrahlen am letzten Morgen seines Lebens die Augen auf; das Wetter war ideal; die Luft federleicht; ein sanfter Rückenwind versprach liebevolle Unterstützung; ausgiebig wurde ein letztes Mal gefrühstückt, auch wenn die Würmer schal und sinnlos schmeckten; wie gewohnt der Schnabel gesäubert und an einem Stein gewetzt; dann plusterte er sich auf; schniegelte mit dem Schnabel das Federkleid zurecht, die Federn dabei sorgfältig an den Körper glättend; bewegte alle Muskeln einzeln durch; wippte den Bürzel; spannte die Flügel horizontgleich aus und stiess seinen Körper - ein letztes Mal! - mit einem gewaltigen Herzschlag von der Erde ab, sich in die freie Luft schwingend, wo er im Rüttelflug das auserkorene Auto abwartete, bis es in sein Blickfeld geriet, und in ihm das lang eingeübte Gespür schrie: Jetzt! Da schnellte er los, liess alle Erinnerung, liess alle Zukunft, alle Instinkte und Schmerzen zurück, schnitt klar wie ein Messer durch die Ebene, durchschnitt den Pappelzwischenraum golden und traf das auserkorene Auto im wahren Winkel und an der gewünschten Stelle, dort nämlich, wo das rechte Vorderrad unter dem Kotflügel in ewiger Drehung schwingt und ihn augenblicklich verschlang. Ja, er war schon immer ein Erfolgstyp gewesen und auch diesmal gelang es ihm auf den ersten Schlag und so sanft, dass der Fahrer - den er nicht kannte und deshalb nicht hatte auswählen können - trotz der grossen Aufmerksamkeit, die die schnelle Fahrt abverlangte, kein Rütteln verspürte und nicht das leiseste Geräusch von Zerquetschendem, kurz, der Vogel hat sage und schreibe das Kunstwerk zustande gebracht, sich das Leben zu nehmen ohne den Fahrer in seiner Weise als Mensch in geringster Weise zu stören oder gar zu manipulieren, denn auch unter den Kotflügel, wo er jetzt dank seinem Blute klebt, schaut bei diesem noblen Wagen niemand.
"Dort ruht er perfekt," murmelt der Fahrer zu sich selbst, "an meinem Wagen gleiten immer vier Särge mit, vier mit Kot und Dreck ausgebettete Särge, immer bereit und offen für Fälle wie diese, für in ihre Instinkte verflogene Vögel und anderes Geschmeiss."
Und es hat ihn nur eine kaum merkliche Korrektur des Steuerrads gefordert, um den an und für sich schon lächerlichen Zusammenstoss vollends in die Vergessenheit zu befördern, den Wagen in der schnurgeraden Bahn zu festigen und weiterzugleiten unter dem strahlenden, lachenden Himmel wie ein rein gesungener, glasklarer Ton.

 

Bild: Ohne Titel Ölkreide auf Papier, 2004

Mein Lied

Ein Mann sitzt in einem Labor
und macht aus seinem Leben ein Lied
Eine Amsel sitzt auf einem Ast
und singt ein Lied

Ich nehme ihr Lied
und widme es dir
Und du verwechselst das immerzu
Die Intimität mit deiner Geliebten
mit der Intimität deiner Geliebten

Unwohl wohne ich in meiner Haut
Sie dehnt sich aus
wird zu Gottes Haut
Ekstatisch fallen die Regentropfen retour

Und ein Mann geht durch die Stadt
mit einer Bombe im Herzen
Alles ist nichts
und aus dem Nichts
explodiert das Leben

In jedem Augenblick
find ich im Nichts das Alles
und in allem das Nichts
Und stelle mich meiner Nachbarin vor
Ich bin der Mann der Frau

Mit der zuckenden Pfote des träumenden Hundes
hat mich die Wahrheit berührt
Und federnd im Gewicht des Taugenichts
spielen meine linken Hände
am dunklen Ende des Klaviers
mein Lied

 

Bild: Mein Lied Gouache auf Papier, 1992