Tauwetter

TAUWETTER

Warmer Regen
wäscht den Schnee
fort

Vom Schneemann steht
nur mehr
ein Phallus

Der
hebt die Blicke
der Vorübergehenden

Und Regentropfen
höhlen Augen
aus

Und Windstösse haschen
vergeblich
nach altem Laub

Vom Schmutz der Vergänglichkeit gejagt
ducken sich ein paar Schneefelder noch
in der Landschaft

Aas
für die Schwärze der Raben
die in Scharen landen

Und langsam, Schritt für Schritt
schreiten die von Lawinen Verschütteten
ans Licht

Das Leben

Das Leben ist oft
schwer zu ertragen

Mit all diesen geglückten
und unglücklichen Begegnungen

Müssen wir doch vom Sinnlosen
den Sinn los werden

Wie vom Baum
den Apfel

Von der Lerche
das Lied

Vom Traum
die Deutung

Und vom Ozean
die Wassertropfen

Wenn aus Sehnen Sehen wird

WENN AUS SEHNEN SEHEN WIRD

Wenn aus Sehen Sehnen wird
sehne ich mich
nach dem Sehnen in deinen Lenden
sehne mich
von deinen Lippen
die Schneeflocken zu lesen
und über den Rand der Welt zu schauen
in das blaue Land deiner Trauer

Wenn aus Sehen Sehnen wird
sehne ich mich
nach dem Singen des Novemberwinds
sehne mich
das Unzerstörbare
in der Kerzenflamme zu sehen
und im Morgengrauen
das Lied der Amsel zu verstehen

Wenn aus Sehnen Sehen wird
sehe ich
wie Autisten
die Neuronen zählen in deinem Hirn
sehe die Andern in Gefängnissen aus Herzschlägen
ihre Herzschläge suchen
und sehe Hunde
in ihren Herzen ruhen

Wenn aus Sehnen Sehen wird
sehe ich
rote Hängematten
wie sie schweigen im Wind
sehe Liebende
sich verlieren in ihren Haaren
und Engel
sich in Kirchen paaren

Wenn aus Sehnen Sehen wird
sehe ich
Blumen brennen und Bäume stehen
höre Herzen schlagen
im vergessenen KZ von Halle
und sehe
das letzte Blatt
vom Baum der Erkenntnis fallen

Ein Novembertag

Es ist heut ein Tag
der schmeckt
nach Regenwürmer

Ein Novembertag
ich gehe
es regnet

Meine Schuhe
zertreten
die Regentropfen

Ein leichter Wind
kommt auf
und geht mit mir

Er sei mein Freund
sagt er
und raubt mir

Von den Lippen
den Geschmack
deiner Liebe

Doch an die Trauer
in meinem Herzen
schafft er`s nicht

Propheten des Herzens

Ein Hund bellt die Welt an
Im Himmel kreisen die Krähen

Und in einem Augenblick dazwischen

Überbrückt ein Regenbogen
Die Landschaften unserer Seelen

Dein Geist sitzt
in einer alten Weinflasche

Und schaukelt
durch den Ozean des Schlafes

In dieser lauen Nacht
habe ich meine Liebesabbitte
auf einem Zettel verfasst

Die Asche vom Streit gestern Abend
hastet noch über den Küchentisch

Gejagt vom Atem der Morgendämmerung
der durch das gekippte Küchenfenster huscht
wie ein Dieb

Daneben verweigert
die fristverlängerte Steuererklärung
auch nach Ablauf der Frist
unausgefüllt ihren Dienst

Und erhellt als unantastbare
Wahrheit die Welt

Wie das weisse Licht

Das den Sterbenden
auf der anderen Seite
empfängt

Am Himmel sind die Gestirne längst verblasst
die im Schmerz der Nacht hingen
wie befreite Gehirne

Und auf dem Gehsteig der Quartierstrasse
wartet ein ausrangiertes Stoffkanapee
auf die Müllwerker

Oder auf ein altes Paar
das sich darin gemütlich macht

Um sein Schicksal zu betrachten

Dem es ein Leben lang
nur nachgestolpert

O gib mir
deine Geschichte
ins Ohr

Damit du erkennst
dass du sie nicht bist

Und sag mir
wem der Gesang der Amsel gehört
wem das Lallen des Betrunkenen

Und wem der Schrei des Sterbenden
das jeden Morgen mein Erwachen begleitet

Hundert Hunde waren meine Gäste zur Nacht
und haben mit mir gejagt
den Grossen Traum

Und nun studiere ich die Wetterkarte deiner Seele
um dich wieder herauszuholen
aus deinen vergeblichen Versuchen
dich von deiner Schuld zu befreien

Du weisst
ich liebe dich

Weshalb willst du es nur
immer wieder wissen?

Liebe ist dieses Eine im Leben
das ich noch nie hab loslassen können

Alle Versuche waren nutzlos
und auch das Loslassen
des Loslassens vergebens

Und jetzt warte ich mit dir
ganz nah
an deiner glühenden Seite

Bis du mir die kühlfeuchte Nase eines Hundes
ans Ohr schenkst
oder den Moschusgeruch seiner Pfote
in die Nase

Als gäbe es keine grösseren Gabe
in diesem irrsinnigen Leben

Die Welt bräche
in schallendes Gelächter aus

Die Sterne am Himmel wären
meine versteinerten Fingerabdrücke

Die ich überall hab hingetastet
um deinen Körper zu finden

So unglaublich nah meinem

Mein müdes Beten würde erhört
und meine Geburtsschreie an einen Gott
der doch irgendwo zu begreifen sein müsste

In diesem leeren Licht

Mit blossen Händen nähmen wir
die Taube vom Himmel

Mit dem Schamhaar des Todes
im Schnabel

Und höben uns die Augen aus

Und fielen in die Blindheit der Liebe

Durch unauslotbare Brunnen
in die jerusalemischen Landschaften der Seele

Wo Berge aus Tatsachen gebaut
und Ebenen nichts weiteres als der Fall sind

Wären unfähig
etwas anderes zu tun

Als der Lehrrede des Lebens
zu lauschen

Sähen die Welt allabendlich
in einem lodernden Eisenbahnzug
durchs Universum rasen

Hätten diesen Zug
längst verpasst

Blieben in Bahnhöfen hängen

Verlorene obdachlose

Propheten des Herzens

Abendlied

Ich sitze auf dem Balkon
den makellosen Spiegel
des Abendhimmels
im Gesicht

Während noch
ein paar Mauersegler
im Abendlicht
hin- und herschwingen

Und sich irgendein
unermüdliches Insekt
an den rosa Oleanderblüten
zu schaffen macht

Denke ich an dich
irgendwie leicht
und doch auch müd
vom Tag

Und weiss
dass das Lied der Amsel
auf dem Schornstein gegenüber
ganz dir gewidmet ist

An Hundstagen

An Hundstagen
liegen Hunde
dumm herum

Und Buschwindröschen
sehnen sich
nach Blütenköpfen

Ihr Zittern
ging verloren
im Frühlingswind

Und wurde wieder gefunden
im Liderflirren
träumender Hunde

Diebinnen der Liebe

Der Tag sagt, dass er noch zu haben sei
zu einem Preis, den zu zahlen
du nicht bereit bist
Am Morgen hat dich im Spiegel
ein Augenblick von Bedeutungslosigkeit erhascht
Und jetzt ziehst du durch die Gassen der Stadt
Flüchtling deines Herzens
Fliehst vor dessen Schlägen
und die Diebinnen der Liebe fliehen vor dir

In den Schrebergärten schreien die Schnecken
und in den Parks der Botschaften
duften die Rosen
Einsam blüht die Blume des Lebens
und verschlingt die Fliegen
die pralle Müllsäcke umwerben
Dann macht sie sich an den Rest des Tages
den zu verspeisen, du nicht gewagt hast
und die Diebinnen der Liebe speisen mit ihr

Die Blume wächst in deinem Herzen
das so gewöhnlich ist
wie ein tönerner Blumentopf
Du hast deine Geschichte verloren
Sie liegt irgendwo im Müll
von all dem, was nicht gesagt werden kann
Sommer heisst der Tag, und selbst Polizisten im Dienst
überfallen die Dielen und stehlen das goldene Eis
und die Diebinnen der Liebe stehlen mit ihnen

Und du kannst nicht anders
als die zahllosen Kaugummimuttermale
zärtlich anzusehen
die sich über die asphaltische Haut der Erde legen
Sie weisen dir den Weg wie Kinderzeichnungen
der abertausend Augen Gottes
Und da das alles ist, was ist
kommen die Kellerkinder ans Licht
und die Diebinnen der Liebe sehnen sich für dich

Und alles, was du noch bist
ist das, was du einst warst
in dieser angehaltenen Welt
die so satt in deine Handfläche passt
Du triffst auf das Mädchen mit den traurigen Brüsten
das dir Tränen weint von Milch
Und im Gasthaus Zum träumenden Hund fällt
der blaue Regen, fällt
an die zitternden Fenster
und die Diebinnen der Liebe fallen mit dir

Schneetag

Der Schneefall hört auf
Stille
Prall begehrt das Schneemeer
Krähen hacken Wunden in Wolken
Blondes Kuhschwanzhaar hängt am Stacheldraht
Ein sanfter Wind frischt auf und kämmts
Geräusch von Säbelschwirren
(Krähe im Tiefflug)
Sonst nichts
Als einwenig Asche von gestern
Und frische Schneepastetchen auf den Pfählen
Keiner ragt gerade aus dem Schneefeld
Ein Brummen im Himmel
(ohne Flugzeug)
Vehement flaggt die Sonne nun
Das Schneemeer stöhnt
Von der Traufe tropfts
Der Eiszapfen bricht
Ich hebe ihn auf
Und schenk ihn
Deiner Schenkelhitze
(in der Nacht)
Ach, wie verletzlich
Alles
Wie vergänglich

Ein Bild

Ich male ein Bild
von dir

Ich nehme als Farbe
allen Schmerz
und allen Jubel
den ich jemals
für dich empfand

Ich trage Wunden
im Gesicht

Und ein leeres Herz
in den Händen

Ich knie nieder
vor dir

Für all das Leid
und all das Licht

Für all die Tränen
die du weinst

Und für all die Lieder
die du singst

Eisrosen

Es schneit
leicht

Die Scheiben verkräuselt
von Eisrosen

Mit dem Fingernagel
kratz ich sie weg

Und büschle sie
zu einem Sträusschen Schnee

Das ich in deinem Bauchnabel
arrangier

Es sind die ersten Rosen
die ich dir schenk

Und wer weiss
vielleicht auch die letzten

Draussen gibt sich die Gegend
unschuldig

Weiss gepudert
wie ein Geburtstagskuchen

Zittern die Tannen darin
wie smaragdgrüne Kerzen

Und in der Stille
flackert ein schmaler Mond

Alles scheint zu warten
auf den letzten Atemhauch

Der die Nacht
löscht

Damit sich
die Liebe zeige

Die scheue, die
die Welt umarmt

Simpel und banal
wie der blaue Schal

Den Schneemann draussen
hinter den Scheiben

Bleibe nah und tue nichts

Das gelbe Buch
mit dem goldenen Titel
der mir entfallen ist
wartet im Büchergestell
schon seit langem auf dich
wartet beharrlich
neben der verstaubten Lücke
die das grüne Buch
mit dem karminroten Titel
zurückgelassen hat
als es einmal verliehen
sich in irgendwelchen Händen
einer raschen Liebe
verlor

Nur sein Titel
Bleibe nah und tue nichts
klammert sich noch
in meiner Erinnerung fest
vielleicht
weil ich damals
mit den Fingerkuppen
darüber glitt
und den zarten Schmerz spürte
einer zierlichen Grabinschrift
im Granit

Doch suche mich nicht hier
und warte nicht auf mich
Seit undenklichen Zeiten
streife ich umher
durch die herbstlichen Wälder der Erde
Wölfe und wilde Hunde an der Seite
vollkommen durchschienen
vom Licht
das durch die unzähligen Blätter scheint
der Buchen und des Ahorn

Dass du da bist

Dass du da bist
dass ich aber nicht weiss
wer du bist

Dass du mich anblickst
dass ich aber nicht weiss
wessen Blick

Dass du mir deine Seele zeigst
wie ein Pfauenauge
das sich auf meine Handfläche setzt
dass ich aber nicht weiss
ob es gleich wegfliegen wird

Macht die Spannung aus
mit der ich dich liebe

Aber auch die Gefahr
dass sie bricht

Wäre es möglich

Seit dem frühen Morgen
sitze ich hier und fühle mich
einsam hineingefallen
in die endlose Weite des Tages

Wäre es möglich
nicht einsam hier zu sitzen?

Erst am späten Abend
nach langem Verhandeln mit mir
komme ich zum Schluss

Es wäre möglich

Ich nehme dich

Ich nehme dich
aus deinen Träumen

Als nähme ich
vom Baum des Lebens

Den ersten Apfel

Hinter uns
die Rache der Toten

Vor uns
der Rachen des Todes

Wie zart
das Fleisch des Apfels

Wie schön
das Leben

Ich will dich begleiten

Für Sara Cosima

Ich will dich begleiten
auf eine Reise ins Land der Zweieinsamkeiten
wo eins und eins nicht zwei sondern eins
wo Berge Wolken und Wolken betrunkene Berge
wo das Leben die leichte Brise ist im Gesicht
mehr nicht

Wer träumt?

Yasutani Rōshi
meditiert nicht
er träumt
von zwei Hunden
die unter ihm
schlafen
und träumen
von einem Zenmeister
der nicht meditiert
sondern
schläft
und träumt
in einem Bild
an einer Wand
eines Zimmers
von zwei Hunden
die nicht meditieren
sondern
schlafen
und träumen
sie seien
zwei Menschen
in einem Bett
eines Zimmers
schlafend
und träumend
von einem Zenmeister
genannt
Hakuun Yasutani Rōshi
der mit Eitempera
auf Packpapier
gemalt
schon seit
vielen Jahren
in einem Rahmen
an einer Wand
eines Zimmers
hängt
und nicht schläft
sondern
meditiert
und dank seiner
grossen Leidenschaft
und Geduld
in diesem Augenblick
das Kōan
Wer träumt?
meistert

 

Der Traum von Yasutani Roshi

 

Bild: Yasutani II Eitempera auf Packpapier, 1992

 

Blutmond 04:53

Den ganzen Tag lang ass
die Sonne aus mir
wie ein Hund
aus einem Blechnapf Frass
und hat mich
leergeleckt für dich
Da kommst du über mich
Geliebter
wie die Nacht
kommst du über mich
tief und dürstend
wie ein Tier
und legst mir
in die Seele
den Mond
Hostie der Nacht
und der Sonne Aas

 

Bild: Henri Rousseau, 1910

Birte

Heute wische ich mir
die Bitternis von den Lippen
die als Stabreim noch
an deinem Namen haftet
Birte

Dann nehme ich deinen Namen
zart in meine Hände
wie eine leere Hülle Haut
Bittere
Birte

Habe durch dich
von der Liebe geschmeckt
die hinter allem wartet
hätte gerne noch mehr vom Leben
mit dir geteilt

Den Schmerz
zum Beispiel
oder ein Kind

Wir hätten dann
im Sessel des Alters
das gelebte Leben betrachtet
wie im Kino den Film
Okuribito
damals
als der unzähmbare Fluss
durch unsere jungen Körper
gerauscht

Wären dann rübergehüpft
über den Tod
wie in den Quartierstrassen
die Kinder
über Hosengummis
einer nach dem andern
ins Grosse Meer
spielerischer Leichtigkeit

Hätten der Schwerkraft
ein Schnippchen geschlagen
die uns so gern
wieder in eine Körperhaut
gedrückt
und in einer Gebärmutter
versenkt

Doch ich weiss nicht
wo du jetzt bist
und was du jetzt tust
vielleicht läufst du umher
grau und mondän
eine fremde Frau
unter vielen

Und fragst dich heimlich
ob du auch geliebt hast
ob du auch
ein rohes Herz trägst
nackt
in die Nacktheit der Liebe

Woher nur
soll ich das wissen
Mein Name ist
eines Morgens
nicht mehr
mit mir
erwacht

O Namenlos
bin ich
dazu verdammt
Engel vom Himmel zu bitten
um auf ihren Häuten
Gedichtchen
zu dichten

An die Namen
all meiner
gegangenen
Geliebten

 

Bild: Im Trojanischen Pferd Gouache auf Papier, 1993