Das lautere Herz der Traurigkeit

 

Wenn dein Rücken einsinkt, versuchst du dein Herz zu schützen oder gar zu verbergen, aber wenn du aufrecht und trotzdem entspannt sitzest, dann ist dein Herz nackt. Dein ganzes Sein ist blossgelegt, vor allem vor dir selbst, aber auch vor anderen. Beim stillen Sitzen, in dem du dem Atem folgst, wie er ausströmt und verfliegt, stellst du die Verbindung zu deinem Herzen her. Du lässt dich einfach sein, wie du bist, und daraus erwächst eine echte Sympathie für dich selbst.
Wer so sein Herz erweckt, der stellt staunend fest, dass dieses Herz leer ist. Es ist wie ein Blick in den Weltraum. Was bin ich, wer bin ich, wo ist mein Herz? Wer wirklich schaut, findet nichts Greifbares, nichts Festes. Natürlich kann man auch sehr feste Dinge finden, wenn man nämlich jemandem böse ist oder sich besitzergreifend verliebt hat, aber das hat mit dem erwachten Herzen nichts zu tun. Wenn du dieses Herz suchst, wenn du in deiner eigenen Brust danach tastest, findest du nichts als Zartheit. Weich und wund fühlt es sich an, und wenn wir unsere Augen für die Welt öffnen, überkommt uns eine abgrundtiefe Traurigkeit. Diese Art von Traurigkeit hat aber nichts mit äusseren Gründen zu tun: Du bist nicht traurig, weil dich jemand verletzt hat oder weil du einen Verlust zu beklagen hast. Diese Traurigkeit ist grundlos. Sie rührt daher, dass dein Herz ganz blossgelegt ist. Keine Haut scheint mehr darüber zu sein, es ist rohes Fleisch. Setzte sich eine winzige Mücke darauf, du wärst davon zutiefst berührt. Dein Empfinden ist ungeschützt und zart und sehr persönlich.
Das lautere Herz der Traurigkeit wird hervorgerufen durch die Empfindung, dass dein nichtexistentes Herz doch übervoll ist. Du möchtest dein Herzblut vergiessen, du möchtest anderen dein Herz schenken. Für den Krieger ist diese Erfahrung des traurigen, zarten Herzens die Geburt seines Mutes. Normalerweise versteht man unter Mut, dass man keine Angst hat oder dass man zurückschlägt, wenn man geschlagen wird. Es dürfte klar sein, dass wir hier nicht vom Mut eines Raufbolds sprechen. Wirklicher Mut erwächst aus der Zartheit, aus der Bereitschaft, dein verwundbares, wunderbares Herz von der Welt berühren zu lassen. Du bist bereit, dich ohne Abwehr und ohne Scheu der Welt zu öffnen, und du bist bereit, dein Herz mit anderen zu teilen.

Chögyam Trungpa Rinpoche

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert