Der Körper des Schamanen

Der Yaqui-Weg des Wissens der Indianer und Don Juans Vorstellungen vom Krieger und Doppelgänger sind zeitlose Vorstellungen, die es überall gibt, nicht nur in den Traditionen der Eingeborenen, sondern auch in Träumen von Menschen aller Rassen, Religionen und Altersstufen. Schamanismus ist eine archetypische Verhaltensform, die auftaucht, wenn wir mit unlösbaren Problemen konfrontiert werden. Vielleicht werden wir niemals einem Schamanen im Stammesverband begegnen, aber ganz sicher können wir Träume und körperliche Impulse haben, die eine Tausende von Jahren alte Zauberkraft wachrufen. Ungewöhnliche Träume und ein Spüren des Unheimlichen mahnen uns, den Zauberer, den Magier und den Weisen in uns selbst nicht zu vergessen.

Wahrscheinlich haben wir alle schon Träume gehabt mit der Aufforderung, uns mit unseren Wurzeln zu verbinden, unsere früheste spirituelle Vergangenheit zu beleben und in andere Welten zu reisen, wie Menschen das seit jeher immer wieder getan haben. Solche Träume haben die Schamanen dazu inspiriert, die gewöhnliche Realität zu verlassen, während sie gleichzeitig für ihre jeweilige Gemeinschaft weiterhin anwesend blieben. Viele Menschen fühlen sich heute noch dazu getrieben, sich dem Einfluss von Drogen hinzugeben, um diese veränderten Bewusstseinszustände erleben zu können. Andere, die unter chronischen Symptomen leiden, kehren zum Schamanismus zurück, wenn sie entdecken, wie wenig die westliche Medizin ihnen wirklich helfen kann.

Es gibt viele Arten schamanischer Schulung; manche ereignen sich spontan in uns, wenn wir von weisen inneren Traumfiguren und Körpererfahrungen geleitet werden. Andere sind an spirituelle oder psychologische Lehrer, Traditionen und Schulen gebunden. Allen jedoch ist gemeinsam, dass wir die Alltagsrealität und ihre Konventionen, Regeln und Rituale als gefährliche Gegner erleben. Die anerkannte Realität und die sozialen Rollen scheinen Signale aus dem Unbewussten zu unterdrücken. Die Realität, der die meisten Menschen folgen, scheint zu verbieten, dass wir unsere Halluzinationen, Schmerzen und Unfälle erforschen.

Die ersten würdigen Gegner, die es zu überwinden gilt, sind daher häufig gerade die Menschen, die uns am nächsten stehen. Das Weltbild der anerkannten Realität, unserer Freunde und unserer Familie - die uns zwar lieben mögen, aber auch eifersüchtig sind - ist wahrscheinlich die grösste Gefahr für unseren Fortschritt. Patriarchale, konventionelle Familiensysteme und Gruppen haben eine ungeheure Macht in der Art einer Verzauberung, vor der sich der Lehrling des Schamanen hüten muss. Der zukünftige Krieger fühlt sich schuldig, grundlegende soziale Regeln zu missachten und mit verbotenen Göttern, dem Geist der Natur, zu liebäugeln.

Unsere Lehrer werden diese Götter wahrscheinlich unterstützen und uns öffnen für die Erfahrungen veränderter und traumähnlicher Bewusstseinszustände, die mit unserem Alltagsleben und unseren Freundschaften in Konflikt stehen. Und doch - ungeachtet der Hilfe unserer Lehrer - vergessen wir die Traumzeit immer wieder; sie scheint der allgemein anerkannten Realität zu erliegen. Wir brauchen die Fähigkeiten eines Kriegers auf dem Pfad des Herzens, wenn wir unsere Träume wahrnehmen und mit den entstehenden sozialen Spannungen umgehen wollen.
Vielleicht erscheinen uns deshalb Schamanen wie Don Juan, trotz ihrer Herzensstärke, oft als brutale, einseitige Ausbilder, weil sie die Stabilität halsstarriger, intellektueller Wesen ins Wanken zu bringen versuchen. Tatsächlich sind die Lehren vieler authentischer Schamanen nicht anders als die Lehren von Don Juan; gelegentlich erscheinen sie eher wie schmerzhafte Schläge höhnisch schimpfender Lehrer und nicht wie Lektionen weiser und vorurteilsfreier Meister.
Selbst wenn wir bedenken, dass die Lehren der amerikanischen Eingeborenen unter anderem deshalb entstanden sind, um den einzelnen Überlebenshilfen angesichts der drohenden Gefahren nomadischen Lebens zu geben, wurde die Entwicklung von Macht und Kriegerschaft unverhältnismässig stark betont. Was ist das Entscheidende - kämpfen oder Bewusstheit? Ohne Bewusstheit ist der beste Lehrer nicht anders als ein Durchschnittsmensch, der von einem Geist besessen ist und darauf besteht, dass nur sein Weg allein der richtige sei. Und doch können wir der Phase des Kriegers nicht entgehen, weil wir ab einer bestimmten Zeit alltägliche Ereignisse als Fragen von Leben oder Tod erfahren und dabei unsere Gegner innen und aussen vorfinden werden.

Wir gewinnen Zugang zu schamanischen Erfahrungen und zum Traumkörper durch eine Führung des inneren Lebens; hierbei wird uns klar, dass unser Kampf nur von einem Krieger überlebt werden kann. Äussere Lehrer sind hilfreich, denn sie geben uns ein Gefühl von Kameradschaft und Gemeinschaft, während sie uns der Konfrontation mit uns selbst aussetzen. Vielleicht ist ja der Tod unser weisester Ratgeber. Einige Lehrer, besonders jene der tibetischen Bön-Religion und des Tibetischen Totenbuches des Buddhismus, weisen daraufhin, dass die Erfahrung des Todes und das Ende unserer Identität die entscheidenden Lehrer des Lebens sind.

Und doch stirbt unser Ego nur sehr schwer, weshalb wir subtile Empfindungen und Gefühle nur dann wahrnehmen, wenn sie drohen, uns umzubringen. Meistens neigen wir dazu, die Natur zu beherrschen, statt ihr zu folgen. Wir verlassen uns auf Ärzte und Therapeuten, Berater, Priester, Heiler, Entwicklungshelfer und sogar Politiker, als brauchten wir Anwälte, die sich gegen unsere eigene Natur wenden.
Der schamanische Weg ist ein anderer, da er auf der Wahrnehmung unvorhersehbarer Ereignisse in uns selbst und auf der Erde basiert. Der Traumzeit-Geist der Erde gibt uns Boden unter den Füssen, er inspiriert und lehrt uns. Er ist selbst ein unergründliches Wesen. Er ist wie ein Vogel, ein Fisch im Wasser, ein jagender Puma, ein Bär, eine Giftschlange, eine Wolke über einem alpinen Berggipfel, die untergehende Sonne, ein halber Mond. Er ist der Autolärm, der Donner eines entfernten Flugzeugs, er ist das, was die australischen Aborigines, die älteste Menschengruppe der Erde, als Träumen bezeichnen. Dieses Volk, unsere älteste Familie, sagt, dass die Geschehnisse auf der Erde, unsere Geologie und die Synchronizitäten, durch das Träumen der Erde hervorgerufen werden.
Das Leben der Eingeborenenstämme mag vielleicht überall aussterben, wenn das nächste Jahrtausend beginnt. Aber die Geschichte vom Schamanen und vom Zauberer ist die Geschichte vom Traum einer zeitlosen Vision, die in uns allen weiterlebt und nicht ausgelöscht werden kann. Wir können ein Eingeborenen-Volk umbringen, aber keiner hat Macht über die Traumzeit. Der Schamanismus selbst ist unsterblich. Das wird jener australische Eingeborene wohl gemeint haben, als er sagte, man könne zwar das Känguruh umbringen, da das Träumen vom Känguruh aber unzerstörbar sei, sei das nicht so tragisch.

Arnold Mindell The Shamans Body

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