Der Tod als Ratgeber

Es gibt Zeiten, in denen wir sterben möchten, und eines Tages werden wir alle sterben. Sich von einer alten Identität, einem System oder einer Beziehung zu trennen, ist wie Sterben. Ich begreife erst nach einer solchen Trennung, daß ich gestorben bin. Da ich ziemlich eigensinnig bin, bin ich nur schwer umzubringen, und so sterbe ich unbewußt und unter Schmerzen. Anschließend denke ich darüber nach und begreife, was geschehen ist. Es geht mir dabei wie dem Geist eines Verstorbenen, der seinen Körper verlassen hat und erst dann erkennt, was mit ihm geschehen ist.

Es gibt auch einfachere Methoden. Wenn wir ihnen eine Chance geben, werden Todesphantasien unsere persönliche Geschichte auslöschen können: Die Art, wie wir arbeiten, die Erwartungen an uns selbst und die vorhersagbaren und abgetragenen Muster unserer Beziehung. Nach einem buddhistischen Ritual müssen wir jeden Tag über unseren Tod meditieren. Viele Lehrer sind sich einig darin, daß der Tod der einzige weise Ratgeber ist, den wir haben.

Ich denke an eine Klientin, die vor kurzem gestorben ist. Als sie das erste Mal zu mir kam, befand sie sich schon im Sterbeprozeß einer Krebserkrankung und ihre Tumore begannen bereits, ihr das Atmen zu erschweren. Sie kam zu mir, weil sie panische Angst vor dem Tod hatte. Ich fragte sie, ob es etwas gäbe, was sie in ihrem Leben noch gerne tun würde und drängte sie, ihrem wichtigsten Wunsch nachzugehen. Sofort sagte sie, daß sie sich einen lebenslangen Traum erfüllen würde, nämlich im Sommer nach Finnland zu reisen.
„Also gut", sagte ich. „Fahren Sie nach Finnland".
„Aber nein", antwortete sie, „das kann ich doch nicht tun. Mein Mann hat jetzt keinen Urlaub, er muß arbeiten".
Dieses Gespräch fand im Mai statt. Statt sofort Urlaub zu nehmen, um mit seiner Frau nach Finnland zu reisen, nahm ihr Mann sich erst im Juli frei, als gerade seine Urlaubszeit begann, um dann seine Frau zu beerdigen und um sie zu trauern. Der Tod bedeutete dieser Frau nicht viel. Alles andere hatte Vorrang; der Beruf ihres Mannes, ihre Kinder, ihr Haushalt. Sie verbrachte ihr Leben damit, die Dinge aufzuschieben, die ihr am meisten bedeuteten, um ihre persönliche Geschichte als Hausfrau aufrechterhalten zu können. Sie hätte ihren Tod als weisen Verbündeten benutzen können, wenn sie darauf vorbereitet gewesen wäre, ihre Krankheit als eine Macht zu erfahren, die sie dazu aufforderte, sich von ihrer persönlichen Identität zu befreien. Statt dessen löschte er sie einfach aus.

Solche todesnahen Situationen können den Tod in Form erschreckender Krankheiten oder Körpererfahrungen als unseren weisen Traumkörper-Ratgeber erscheinen lassen, als den besten und vertrauenswürdigsten Freund, den wir haben. Von diesem Standpunkt aus ist die Todesangst, oder auch das Krankwerden, eine bereichernde Erfahrung, die uns darauf hinweist, daß wir dabei sind, uns von unserer Identität zu lösen.

Jedesmal, wenn du das Schlimmste fürchtest oder dich darauf einstellst, dich gegen innere oder äußere Kräfte zu wehren, versuche zuerst, dir dein eigenes Sterben vorzustellen. Fühle, wie es sein würde, zu sterben. Gehe sogar durch den Akt des Sterbens hindurch. Stelle dir vor, wie du stirbst, wie du aussiehst, welche Erfahrungen du machst. Es ist wichtig, nicht nur an dein Sterben zu denken, sondern dir vorzustellen, was als nächstes geschehen wird.

Gehe durch alle Einzelheiten der Todesphantasie, ob du nun von einem steilen Abhang stürzt, an Krebs stirbst oder durch einen Autounfall ums Leben kommst. Mit diesen Phantasien versuchen wir, uns aus der Verhaftung zu befreien. Begrabe dich selbst. Stirb, bevor du stirbst. Schreibe deine eigene Grabinschrift:

„Hier liegt ein armer Tropf. Manches hat er ja ganz gut gemacht, aber er hat die Wendung nicht geschafft und deshalb konnte das neue Ich nicht in Erscheinung treten. Genau an dem Punkt ist er gestorben, so daß ich jetzt weiterleben kann und frei bin. Jetzt bin ich nicht mehr ich, sondern wurde neu eingesetzt, um an allem, was jemals geschieht, teilzunehmen und Zeuge zu sein".

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There are times when you want to die, and all of us will die one day. Separating from an old identity, system, or relationship is like dying. I realize only after one of these separations that I have died. Since I am so stubborn, it takes a lot to kill me, and I die painfully and unconsciously. Afterward I reflect and realize what has happened, like the spirit of a dead man who leaves his body and only then awakens to what has happened to him.

There are easier methods. If you give them a chance, fantasies of death will erase your personal history: the way in which you work, the expectations you have of yourself, and your predictable and worn-out patterns of relating to others. According to a Buddhist ritual, you must meditate on your death every day. Many teachers agree that death is the only wise adviser you have.

Were it not for fear of death, you might never have the courage to change and jump over the obstacles created by history. When you use death as an adviser, however, you remember that you can no longer put off detaching from yourself and your apparent significance or insignificance.

Think of a client of mine who recently died. When she had come to see me for the first time, she was dying of cancer, and her tumors were beginning to inhibit her breathing. She wanted to see me because she was terrified of death. I asked her if there were still something she would like to do with her life and urged her to follow her most important wish. She said immediately that she wanted to fulfill a lifelong dream and travel to Finland in the summer.
“Go ahead,” I said. “Take a trip to Finland.”
“Oh no,” she answered, “I couldn’t do that. My husband hasn’t any free time just now. He has to work.”
That conversation took place in May. Instead of taking time off from work and going to Finland, her husband took time off in July, just when his vacation time came up, to bury and mourn his wife. Death meant little to that woman. Everything else took precedence: her husband’s job, her children, her household. She spent her life postponing the things that meant the most to her so that she could maintain her personal history as a housewife. She could have used her death as a wise ally if she had been prepared to experience her disease as a force asking her to free herself from her personal identity. Instead, it simply erased her.

Such near-death situations can make death, in the form of terrifying diseases or body experiences, appear as your wise dreamingbody adviser, the best and most trustworthy one you have. From this viewpoint, fearing death or even getting ill is a fortunate experience because it signifies detachment from your identity.

Every time you fear the worst or are preparing to defend yourself against inner or outer forces, experiment first with imagining your own demise. Feel what it might be like to die. Even go through the act of dying. Imagine how you will die, what you will look like, what you will experience. It is important not only to think that you are going to die, but to imagine what will happen next.

Go through the details of the death fantasy, whether it is of falling off a cliff, dying of cancer, or being struck by an automobile. These fantasies are trying to get you unstuck. Bury yourself. Die before you die. Write your own epitaph:

"Here lies poor, little old me. He did some things well but could not make the turn and allow the new me to happen. He died at that point so that now I can live on, free. Now I am not myself anymore but have been replaced by taking part in and witnessing whatever is happening."

Arnold Mindell The Shaman`s Body - Den Pfad des Herzens gehen

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