Die Wölfin

Heute wollte Rick über O-Six’ Großeltern reden, Nummer 21 und 42. Er hatte diese Geschichte schon oft zum Besten gegeben, aber selbst jetzt, elf Jahre nach ihrem Tod, konnte er ihrem Leben noch tiefere Erkenntnisse abgewinnen. Er erklärte seinen Zuhörern, dass es die Geschichte einer großen Liebe sei, wie die von Johnny Cash und June Carter, ein Vergleich, den seine Freunde schon oft von ihm gehört hatten. Aber dieses Mal demonstrierte er anhand dieser Geschichte, was Wölfe fühlen, wie sie das erleben, was wir als Glück, Freude und ein Gefühl der Verbundenheit untereinander bezeichnen. Rick erinnerte seine Zuhörer daran, dass Nummer 21 seinen Vater nie gekannt hatte. Er wurde während des kurzen und tragischen Abenteuers geboren, das seine Eltern, Nummer 9 und 10, außerhalb des Parks erlebten, einem Ausflug, von dem Nummer 10, der erste offizielle Leitwolf des Projekts, nie zurückkehrte. Er wurde von einem Wilddieb erschossen, während die trächtige Nummer 9 in der Nähe so schnell wie möglich einen Bau ausbuddelte. Doch als Nummer 21 und die anderen Jungen wieder in den Park zurückgebracht wurden, kamen sie in dasselbe Anpassungsgehege, in dem auch Nummer 10 gelebt hatte. Als Leitwolf hatte er dort überall seine Duftmarken gesetzt, einen Geruch, der den Jungen nicht verborgen geblieben sein konnte. Die Zeit im Gehege, so formulierte es Rick, bedeutete für den jungen Wolf, Nummer 21, in gewisser Weise, dass er seinen Vater getroffen hatte. Rick forderte die Watcher auf, sich vorzustellen, was ein Tier vor seinem geistigen Auge sieht, wenn es einen vertrauten Duft wittert. Sieht es, wie die gefeierte Tierrechtsaktivistin Temple Grandin vermutet hatte, ein Bild des Wesens vor sich, das dem Duft entsprach? Sah Nummer 21 seinen Vater in diesem Gehege? Rick kehrte zu dem Thema, wie die Sinneserfahrung eines Wolfs seine emotionale Landschaft mitkreiert, immer wieder zurück, während er die bekannte Geschichte vom Aufstieg der Druids unter Nummer 21, dem mutigen, aber vornehmen Krieger, und Nummer 42, der Matriarchin, die die erstaunliche Entwicklung des Rudels überwachte, ausmalte. Dann kam er zum traurigen Ende der Geschichte und erzählte, wie Nummer 42 von den Mollies getötet worden und der alt gewordene Nummer 21 vier Monate später allein zum Specimen Ridge hinaufgestiegen war, wo Rick später seinen Kadaver finden sollte. Aber warum, fragte sich Rick, hatte Nummer 21 beschlossen, auf dem Specimen Ridge zu sterben? Wollte er einen letzten Blick auf sein Reich werfen, wie ein schottischer Clanchef in früherer Zeit? Er hatte sich lange darüber den Kopf zerbrochen, erklärte er den Watchern, und glaubte, das Rätsel endlich gelöst zu haben. Die Erleuchtung war ihm gekommen, erläuterte er ihnen, als er an die Geschichte von Hachiko dachte, den Hund, dessen Name im Japan der 1930er-Jahre synonym für Loyalität gebraucht wurde. Hachiko, der nicht wusste, dass sein Herrchen gestorben war, wartete jeden Tag treu am Bahnhof darauf, dass er von der Arbeit heimkäme, wie er es immer getan hatte. Über neun Jahre lang kam er täglich zur Station, hoffte immer, den Mann zu sehen, der nie mehr auftauchte. Plötzlich wusste Rick, weshalb Nummer 21 auf den Berg hochgeklettert war: Er hatte Ausschau nach Nummer 42 gehalten. Als die Mollies sie auf dem Specimen Ridge angegriffen und getötet hatten, war sie allein gewesen, weit entfernt vom Rudel. Vier Monate waren seit ihrem Tod verstrichen, aber Nummer 21 glaubte, dass sie immer noch lebendig war und die Wälder auf der Suche nach ihm durchstreifte. Am letzten Tag seines Lebens war er auf den Specimen Ridge hochgestiegen, weil er, wie Rick vermutete, mit Nummer 42 unzählige Male dort gewesen war, um einen bestimmten Baum, der als eine Art Wachposten am Rande des Territoriums der Druids diente, mit einer Duftmarke zu versehen. Natürlich war sie an jenem Sommertag, als Nummer 21 diese Stelle allein aufsuchte, nicht da. Aber ihr Duft war immer noch vorhanden, erinnerte Rick die Zuhörer, und hatte Nummer 21 zumindest ein wenig Hoffnung vermittelt, seine vermisste Gefährtin zu finden. »Die Frage, die sich dabei stellt, lautet: Kann ein wild lebender Wolf genau wie wir Freude und Glück empfinden?«, sagte Rick, und seine Stimme klang brüchig. »Und meine Antwort lautet: Ja.« Ricks Ansprache dauerte schon über eine Stunde, und jeder im Raum wusste, wie seine Geschichte enden würde, aber seine Zuhörer waren immer noch hingerissen, und es knisterte im Raum vor Emotionen. Er brachte die Geschichte zu Ende, indem er schilderte, wie er sich die letzten Momente von Nummer 21 vorstellte. Nach dem langen Anstieg auf den Berg hatte der alte Wolf sicher eine Ruhepause gebraucht und sich in der Nähe des Wachpostens niedergelegt, und zwar an der Stelle, an der Rick und Doug Smith ihn später fanden. All die Beschwerden und Schmerzen des Alters und die Erschöpfung nach seinem langen Aufstieg würden sich langsam aufgelöst haben, sagte Rick leise, als der Tod sich näherte. Aber selbst, als er im Sterben lag, würde er noch den Duft von Nummer 42 in der Nase und vielleicht im Kopf noch einen letzten Gedanken gehabt haben, ein letztes Bild von der Wölfin, die alles für ihn bedeutet hatte. Seit einer Weile hatten ein paar Zuhörer schon geschnieft, und manche ließen ihren Tränen jetzt freien Lauf. Es hatte zwanzig Jahre gedauert, und er hatte sich dabei quasi selbst im Weg gestanden, aber nun war Rick ein Meister seines Fachs. Wer den Blick über die versammelten Watcher schweifen ließ, die Rick erwartungsvoll anschauten, kam nicht umhin, Smith mit seiner Bemerkung zu Anfang voll und ganz recht zu geben: Rick wurde gebraucht. Und vielleicht ließ sich dem Tod von O-Six so ein Sinn abringen. Zu ihren Lebzeiten hatte Rick – zusammen mit Laurie und Doug und noch vielen anderen – im Lauf der Jahre Tausenden von Besuchern über ihr Leben berichtet, meistens am Straßenrand des Lamar Valley, aber auch in Interviews mit Medien und bei zahlreichen Treffen wie diesem hier. Doch erst nach ihrem Tod – als sogar die New York Times ihr einen Nachruf widmete – erkannte Rick, wie weit sich ihre Geschichte verbreitet hatte, welch gewaltige Wirkung der einfache Akt des Geschichtenerzählens haben konnte.

Nate Blakeslee Die Wölfin

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