Flaschenklänge

Auf dem Balkon. Geräusche. Klänge. Unordentlicher Lärm wie ein vermülltes Meer brandet in mein Hören. Unten in der gegenüberliegenden Weinhandlung werden Flaschen umgelagert, und das Klirren des Glases verwandelt sich in Musik. Der Säugling, der beharrlich schreit aus dem Fenster eines Hauses, welches ich nicht genau lokalisieren kann. Der Lärm von Bauarbeiten in einer Seitenstrasse. Der leise Luftzug. Motorenlärm und Stimmen, ausländische und solche von spielenden Kindern. Rechts schläft Ely, ausgestreckt auf dem noch kühlen Balkonboden. Ich spüre meine Bauchdecke sich heben und senken; der Atem geht und trägt die hellen Klänge der Flaschen, die in den Harassen umgelagert werden, zu mir und wieder weg von mir. Wie stümperhaft ist doch mein Beschreiben dessen, was ich gerade erlebe. Das Leben hält mich so umfassend fest, dass eine natürliche, selbstverständliche Demut, der einzige Mut ist, den es braucht. Der Mensch überhebt sich durch die einseitige Identifikation mit seinem Verstand und seinem Ich und kann dann über diese Erfahrung die Demut wieder entdecken. Die Demut liegt und wartet  förmlich auf dem Boden der Erde auf einen sich bückenden Menschen. Niemals wird es uns gelingen, ausserhalb des Lebens zu sein. Wir sind eingewobene Fäden in diesem gewaltigen, fliessenden und klingenden und fliegenden Lebensteppich. In Wahrheit sind wir nicht einmal Fäden als vielmehr dieser fliessende Teppich selbst. Das ist das offensichtliche Geheimnis. Es ist so offensichtlich, dass wir es übersehen und mit dieser Blindheit uns vom Leben wegkapseln. Wir verschliessen unser Erleben in einen mentalen Raum wie in eine Flasche und vergessen unsere Sinneswahrnehmungen. Wir verfallen dieser verführerischen Welt, dieser einzelnen Flasche, die wir in unserem Kopf gegossen haben und die wir mit all unseren Vorstellungen, Meinungen und Bewertungen ununterbrochen umlagern. Wir stecken fest im Flaschenhals der Angst. Doch wenn wir Glück haben, geschieht irgendwann in unserem Leben eine Tatsache, der wir in die Augen schauen müssen, weil sie so stark ans Glas klirrt, dass die Flasche zerbricht...

Bild: Jonas Geburt aus dem Walfisch Gouache auf Hinterglas in einem Bad, 1990

1 Comment

  1. Wow…
    Nein, wir können nie «ganz von aussen» auf uns schauen. Das philosophische Problem. Wir können zwar über uns nachdenken, aber sind selbst Teil dessen über das wir nachdenken…

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