Intimität sorgt dafür, dass die ursprüngliche Einheit nicht in Vergessenheit gerät, dass sie immer wieder aufblitzt oder aufschimmert, oft in Augenblicken, in denen man es am wenigsten erwartet. Intimität wird als Gefühl betrachtet, aber in Wirklichkeit ist sie ein Ur- und Grundzustand der Realität. Alles ist Teil eines einzigen Wesens: die Katze und die Maus, Opfer und Täter, Mücke und Mensch, Sonne und Blume. Anders gesagt: In jedem Wesen wird das eine Wesen zum Wesen. Es gibt nicht einfach eine namen- und gesichtslose Einheit, die sich hinter jeder Erscheinung verbirgt, sondern in jedem Wesen wird das eine Wesen zum Wesen, jedes Wesen birgt in sich einen Keim von Individualität. Diese kommt in Menschen mehr zur Entfaltung als in der Mücke und in einem Menschen mehr als in einem anderen, ist jedoch in allen Wesen vorhanden. Die Sehnsucht nach Intimität entspringt einer Erinnerung an diesen Grundzustand des Einsseins, wie übrigens jede Sehnsucht der Erinnerung an einen Grundzustand entspringt. Ihr seid nicht aus der Einheit - oder welchem Grundzustand auch immer - herausgefallen, wie manche behaupten. Es handelt sich keineswegs um einen Sündenfall. Es handelt sich um eine schöpferische Reise, auf der ihr all die in der ursprünglichen Einheit beschlossenen Möglichkeiten entdeckt. Ihr entdeckt sie, indem ihr sie verwirklicht. Nun, dies ist vielen bereits bekannt. Was euch vielleicht nicht bekannt ist, ist, dass die ursprüngliche Intimität immer weiter vorhanden ist, ganz gleich, wohin ihr geht, in welchem Bewusstseinszustand ihr euch befindet und was ihr gerade tut. Selbst wenn ihr Teufelsmessen haltet, Gott verflucht oder für nicht existent erklärt, selbst wenn ihr euren Bruder oder eure Schwester beraubt, verletzt, ermordet, die ursprüngliche Intimität ist und bleibt immer vorhanden. Sie geht niemals verloren. Sie kann nicht verloren gehen. Ihr könnt sie allerdings vergessen und aus diesem Vergessen heraus viel Schmerz erleiden und zufügen. Aber versteht recht: Es ist das eine Wesen selber, das mit sich spielt. Es gibt kein zweites. Wenn euch dieser Brocken zu hart ist, dann stellt euch wenigstens vor, dass wir alle Teil oder Kinder eines Wesens sind, vom selben Ursprung, wenn auch nicht dasselbe. Vielleicht hilft euch das zu verstehen, welch enge Beziehung zwischen uns allen besteht.
Das Entzücken der Intimität besteht darin, in sich selber geborgen zu sein. Sich selber wiederzuerkennen in jeder Begegnung. Nicht als ein anderes, sondern umgekehrt: im anderen sich selber wiederzuerkennen, nicht nur als Idee, sondern als Gefühl. Wenn es eine Idee ist, schafft es Spaltung. Nur als Gefühl ist es ein echtes Wiedererkennen. Intimität bedeutet Geborgenheit, Geborgenheit aus dem Gefühl heraus, überall zu Hause zu sein.
Der gemeinsame Ursprung liegt nicht in der Zeit. Nicht irgendwo in der Vergangenheit, jenseits des Urknalls. Der gemeinsame Ursprung ist jenseits von Zeit, immer vorhanden. Es ist ein Bewusstseinszustand. Und eure Lebensreise findet in Wirklichkeit nicht als eine Reise aus einer in der Vergangenheit liegenden Einheit hin zu einer in der Zukunft liegenden Einheit statt. Es ist eher ein fortlaufender Prozess der Selbsterkenntnis, wobei Erkenntnis zugleich Verwirklichung ist, wie in dem englischen oder französischen Wort »Realisation«. Dieser Prozess geschieht fortlaufend und doch nicht wirklich in der Zeit. Von eurem Bewusstseinszustand betrachtet ist es jedoch ein zeitlicher Ablauf.
Das heißt, dass alle Ereignisse eures Lebens in einer ebenso intimen Verbindung miteinander stehen wie alle Wesen. Auch »Zeit« ist Intimität. Ein vergangenes Ereignis befruchtet ein zukünftiges und umgekehrt. Die Gegenwart bezieht ihre Inspiration sowohl aus der Vergangenheit als auch aus der Zukunft.
Gegenwart ist in Wirklichkeit Begegnung. Der Augenblick der Begegnung: wo du - das heißt, der Fokus des einen Bewusstseins, der dir als »Ich« erscheint - etwas anderem (einer Person, einem Ereignis, einer Sache, einem anderen Fokus des einen Bewusstseins) begegnest, ist Gegenwart, ist Jetzt.
Weißt du eigentlich, in welchem Ausmaß Begegnung zugleich Berührung ist? Weißt du, dass jeder deiner Blicke das, worauf er sich richtet, berührt und von ihm berührt wird? Weißt du, dass du mit jedem deiner Gedanken etwas oder jemanden berührst? Weißt du, dass dein Atem Berührung ist? Wo immer du gehst, berührst du einen Teil des göttlichen Wesens und wirst von ihm berührt.
In dieser Wirklichkeit zu leben, bedeutet Intimität.
Diese Gegenwart für einen Augenblick zu streifen, rührt dich gelegentlich zu Tränen. Aber weißt du auch, wie sehr das göttliche Wesen von dir berührt wird?
Das zu spüren bedeutet Intimität.
Du leidest und erfreust dich an den Gefühlen, die dein Geliebter in dir auslöst. Aber weißt du auch, in welchem Ausmaß dein eigenes Wesen ihn berührt?
Das zu erleben bedeutet Intimität.
Jeder deiner Träume ist ein Heimkehren in die Intimität mit der Welt deiner Seele. Die Welt deiner Seele ist gewaltig und reichhaltig, unüberschaubar für deinen Verstand. In deinen Träumen befreit sich die Seele von der Einengung durch den Verstand und durchstreift sich selbst. Erinnerungen an Vergangenheit und Zukunft blitzen auf. Mögliche Ereignisse werden durchlebt, Sehnsüchte realisiert, Ängste in Szene gesetzt. Andere Welten, andere Schichten deines Wesens, andere Realitäten werden durchstreift. Die Ernte deiner nächtlichen Abenteuer ergießt sich in die Inspirationen des Tages.
Das zu fühlen ist Intimität.
Safi Nidiaye Der Zauber der Intimität