Mach weiter, reite das Pferd rückwärts

Ely träumt, er sei Rosinante, Don Quichottes Gaul

Für Tinu

Das offene Herz sagt vor allem:
Mach weiter,
reite das Pferd rückwärts.
Erlaube dem Unmöglichen, sich zu entfalten.

Die Idee des Rückwärtsreitens reorganisiert alte Auffassungen, alte und transkulturelle Überzeugungen, Paradigmen, Fähigkeiten und Meta-fähigkeiten und wendet sie in einer Art und Weise an, daß wir mit Lust dort nach Lösungen suchen, wo wir uns einig waren, niemals hinzusehen.

Nehmen wir als Beispiel unseren ökologischen Mißstand. Wenn wir das Pferd rückwärts reiten, würden wir vermuten, daß wir mehr Autos kaufen, mehr Benzin verbrauchen, mehr Öl verschwenden und mehr Kinder zeugen, als wir brauchen, weil wir im globalen Smog den Erstickungstod finden wollen. Und wir würden auch vermuten, daß genau das die richtige Richtung ist, sogar wenn sie sich der falschen Mittel bedient.

Versuchen wir jetzt einmal unseren Gesichtspunkt umzukehren und vorwärts zu reiten, um folgendes zu bedenken. Warum sollten wir mit dem Sterben warten, bis wir sterben? Warum nicht uns selbst und unsere gegenwärtigen Gewohnheiten jetzt fallen lassen: DIE WELT ANHALTEN! Jeder Mensch kann auf seine Weise wählen, was angehalten werden sollte. Aber ganz sicher ist es für die überwiegende Mehrheit von uns notwendig, unser Anhaften an das, was wir zu sein glauben, „anzuhalten": nett oder ekelhaft, ehrgeizig oder religiös, weltgewandt oder materialistisch!

Wir müssen echt sein im Sinne des vorübergehenden Sich-Identifizierens mit dem, was wir in einem gegebenen Moment tun und fühlen. Dann müssen wir einen Schritt heraustreten, indem wir das Leben beobachten und sich entfalten lassen, ohne uns mit unseren Handlungen zu identifizieren. Wenn wir dabei sind, die Welt zu zerstören, müssen wir diesen Prozeß aufgreifen und die darin enthaltene Weisheit finden. Vielleicht ist es ein Versuch, metaphorisch Selbstmord zu begehen.

Die Arbeit mit dem Unbeabsichtigten und dem Unerwarteten ist nicht nur eine paradoxe Intervention, um das Pferd rückwärts zu reiten; es ist eine Philosophie und ein Lebensstil, der Ergebnisse zeitigt, wenn andere Lösungen nicht wirken, wenn es nicht mehr hilft, daß wir uns selbst und andere ermahnen, unsere Süchte zu stoppen. Mit diesem Paradigma können alle gewinnen, unabhängig davon, ob sie leben oder sterben.

Wer jedoch kann prozeßorientiert arbeiten? Muß man eine Ausbildung machen in Meditation, Körperarbeit, Psychiatrie, Traum- und Körperarbeit, Gruppenarbeit, Beziehungs- und Bewegungsarbeit, Schamanismus, Heilen, Arbeit mit Sterbenden und spiritueller Entfaltung? Wir glauben das nicht.

Bestimmt besteht Prozeßarbeit auch teilweise aus einer Reihe von Techniken, die man lernen kann, aber worum es wirklich geht, ist die Einstellung zu Konzentration und Wahrnehmung. Wenn du diese besitzt, erzeugst du ganz automatisch die Werkzeuge, die du in einer bestimmten Situation brauchst, um eine Krise in ein Fest zu verwandeln. Der Einsatz dieser Methoden wird immer Angelegenheit der persönlichen Entwicklung sein; sie können nicht einfach erlernt werden.

Wir wissen nicht so genau, wie man diese Entwicklung lehren kann. Wie wächst du bis zu dem Punkt, an dem du mitten im Angriff dein Gleichgewicht bewahrst oder dich sogar auf die Herausforderung freust? Wie entwickelst du Losgelöstheit und Mitleid? Alles, sogar der Tod, scheint darauf hinzuweisen, daß diese Haltungen notwendig sind, aber wer kann sie länger als einen Moment bewahren? Manche Lehrer unterweisen uns in diesen Gefühlen und Fähigkeiten, indem sie sie uns vorleben. Viele Therapeuten lehren Gleichmut, Achtsamkeit, Mitleid und Begeisterung durch die Art und Weise, wie sie mit den schlimmsten Problemen des Klienten umgehen. Die besten Lehrer sind sich bewußt, daß sie nur auf den Weg hinweisen können; der Schüler muß dann das übrige tun.

Die meisten Lernenden können oder sollten sogar etwas über die Geheimlehren der heutigen Zeit und längst vergangener Zeiten lesen und Zen, Buddhismus, Taoismus, Schamanismus und die Kampfkünste studieren. Ganz aufrichtig gesagt, glauben wir jedoch, daß die unmöglichen Herausforderungen des Lebens die besten Lehrer sind.

Um Loslassen zu lernen, müßt ihr das tun, was ihr normalerweise tut! Kämpft gegen das Leben an, so gut ihr könnt. Versucht es zu kontrollieren, den Fluß zu stoßen, so „schlecht" und egoistisch, ehrgeizig und hart wie möglich zu sein. Bekämpft das Schicksal! HALTET ALLES FEST! Zumindest, bis es sich von euch freiwindet. Das ist prozeßorientiertes Lernen; jede aufkommende Phase zu akzeptieren, durch sie hindurchzugehen und euer Ziel zu erreichen, ohne daß ihr merkt, wie ihr dort angekommen seid.

Vielleicht könnt ihr die „neue" Arbeit nicht lernen, ausgenommen durch Wahrnehmung und auch dann nur für einen Moment. Aber seid euch bewußt, wie ihr sie wieder vergeßt, wie ihr euch bemüht und doch nicht versteht, wie ihr weise sein und deuten wollt, wie ihr die Welt verändern und meistern wollt. Und zum Schluß, oder vielmehr noch einmal, wenn alles andere schiefgeht, nehmt wahr, daß das Leben selbst prozeßorientiertes Denken lehrt, indem es all die anderen Überlebensmethoden fadenscheinig werden läßt. Denn wer ist schon bereit, sich zu verändern, bevor Erschöpfung einsetzt? Nur wenn wir am Ende der Linie angelangt sind, sind einige von uns manchmal bereit, sich zu öffnen und das Pferd rückwärts zu reiten.

In diesem einzigartigen und doch vorübergehenden Moment steigt eine Art ehrfürchtiger Friede aus den Wirren des Lebens auf, sogar während der Sturm weitergeht. Und wir erinnern uns, daß dieser ruhige Ort schon immer da war und darauf wartete, daß wir eintreten würden, verborgen inmitten des individuellen und sozialen Wandels.

*

The open heart says, more than anything else
Go on,
ride the horse backwards.
Let the impossible unfold.

The idea of riding the horse backwards reorganizes and applies ancient and cross-cultural beliefs, paradigms, skills and metaskills in such a way that we delight in finding solutions where we agreed never to look.

As an example, take our ecological mess. If we ride the horse backwards, we would guess that we buy more cars, use more gas, spill more oil, and produce more children than we need because we want to asphyxiate ourselves in a global fog. And we would also guess that this is the right direction, even if it is with the wrong means.

Let’s try riding forwards while reversing our viewpoint and consider the following. Why wait until we die to die? Why not drop ourselves and our present ways now: STOP THE WORLD! Everyone can choose what should stop in their own way. But certainly the vast majority of us need to “stop” our attachment to being who we think we are: sweet or nasty, ambitious or religious, cosmopolitan or materialistic!

We need to be real in the sense of temporarily identifying with what we are doing and feeling at a given moment. And then we need to step out, observe and let life unfold by disidentifying with our acts. If we are ruining the world, then we need to pick it up and find the wisdom in it. Perhaps it’s an attempt to commit metaphorical suicide.

Working with the unintended and unexpected is not just a paradoxical intervention in horseback riding; it is a philosophy and lifestyle that work when other solutions do not, when telling ourselves and others to stop our addictions doesn’t work. With this paradigm, everyone wins, whether they live or die.

Who can do process work? Must you train in meditation, psychiatry, dream and body work, group work, relationship and movement work, shamanism, healing, dying and spiritual development? We don’t think so.

Of course, process work is partially a group of techniques that can be learned, but it is mostly maintaining attitudes of concentration and awareness. If you have these, you automatically generate the tools you need in a given situation and can transform crises into festivals. But the use of these attitudes will always be a matter of personal development; they cannot simply be learned.

We are uncertain about how to teach this development. How do you grow to the point where you remain balanced in the midst of attacks or where you even look forward to their challenge? How do we develop detachment and compassion? Everything, even death, seems to point to the need for these attitudes, but who can maintain them for more than a moment? Some teachers instruct us in these feelings and skills through modeling them. Many therapists teach equanimity, mindfulness, compassion, and rapture by the way they deal with a client’s worst problems. The best instructors realize that they can only point the way; the learner must do the rest.

Most learners can, or, perhaps, even must, read about the Mystery Schools of modern and ancient times, study Buddhism, Taoism, shamanism, and the martial arts. But frankly, we think that the impossible challenges of life are the best teachers.

To learn detachment you must do what you normally do! Fight life as much as possible. Try to control it, push the river, be as “bad” and as egotistical, ambitious and tough as possible. Fight fate! HOLD ON TO EVERYTHING! At least until it wrenches itself free from you. This is process-oriented learning; accepting and going through each stage as it comes up and reaching your goal without ever knowing how you got there.

Perhaps you can’t learn the “new” work, except through awareness—and then only for a moment. But notice how you forget it again, how you try, but fail to understand it, how you want to be wise and interpret, how you want to change and master the world. And finally, or rather, once again, when all else fails, realize that life itself teaches process-oriented thinking by wearing out all the other survival methods. After all, who is ready to change before exhaustion? Only when we are at the end of the line, are some of us, some of the time, ready to open up and ride the horse backwards.

In this singular, if temporary, moment a kind of awesome peace arises from the turbulence of life, even as the storm goes on. And we remember that this quiet spot was there all the time, waiting for us to enter, hidden in the midst of individual and social change.

Aus: Arnold & Amy Mindell Das Pferd rückwärts reiten - Riding the Horse Backwards

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert