Onari schaute in das alterslose Gesicht des Königs. Mehr denn je schien es wie aus durchscheinendem Stein gemeisselt zu sein. Sie erkannte, was es bedeutete, so zu sein wie Er. Alles, was sie an Furchtbarem gesehen hatte - die Öde des toten Landes, in dem kein Grashalm spross, die Diener ohne Gesichter, die in Schlamm verwandelten Wassergeister -, das alles war nur sein Spiegelbild. Sie begriff, wie schrecklich es sein musste, wenn überall, wohin man kam, das Leben starb oder in ein hässliches Zerrbild verwandelt wurde. Sie fühlte das Leid, das er nicht empfinden konnte, und litt für Ihn und seine Geschöpfe.
Einen flüchtigen Augenblick meinte sie, als regte sich etwas in dem bleichen Gesicht. Sie musste an einen vor Kälte erstarrten Vogel denken, den sie einmal im Schnee gefunden hatte, und der sich in ihren Händen und unter dem Hauch ihres Atems wieder zu regen begonnen hatte. Der Wunsch, Ihm und seinen Geschöpfen zu helfen, wurde übermächtig. Sie wusste auf einmal, dass sie es nur dann tun konnte, wenn sie Ihm gab, was sie selber besass und was Er verloren hatte.
Mit aller Kraft ihres Herzens, rief sie in sich die Liebe wach, die Liebe zu ihren Eltern, den Grosseltern, den Dinadan in ihren dunklen Höhlen. Sie dachte an ihren Schilien aus der Welt Jenseits, den sie herbeigerufen hatte, sie dachte an ihren Schilien-Li aus Aran, der mit ihr in das verbotene Land gegangen war. Sie rief die Zuneigung wach, die sie für jedes lebende Wesen empfand, für die Geflügelten, die Vierbeiner, für Stein und Erde, Gras und Blume und Baum. Sie fühlte die Trauer um die Toten, die im Kampf gegen die Söhne Gonds gestorben waren, sie weckte den Zorn, der sie erfüllt hatte, als die Hellhaarigen die Wälder vernichteten.
Sie rief die Geborgenheit wach, die sie am abendlichen Feuer im Kreis ihrer Familie empfunden hatte, sie rief die Freude wach, die Heiterkeit. Sie dachte an die kleinen Dingen, die sie glücklich gemacht hatten - ein Schluck Wasser, wenn sie durstig gewesen war, der Ruf eines Vogels, ein buntes Blatt, das in der Sonne leuchtete. Sie weckte die Sehnsucht, die sie in einer Mondnacht oder unter einem weiten Sternenhimmel empfand.
Von neuem durchlebte sie die Ängste der langen Wanderung, aber sie fühlte auch die Zuversicht, die sie gefühlt hatte, weil sie nicht allein gewesen war. Sie dachte an die Nacht bei den roten Steinen, als sie seine Gegenwart geahnt hatte, und an die Kluft, als Er sie hätte töten können und es nicht getan hatte.
Der Schwarze König wandte den Kopf zur Seite. Über sein Gesicht liefen Tränen. „Was ist das?“ Fragte er mit seiner Stimme, die von weither zu kommen schien.
„Du weinst, Herr“, antwortete Onanie.
„Ich weine?“
„Du weinst über Dich, Herr!“
„Über mich?“
„Und über Dein armes Land!“
Er blickte um sich, als sähe Er zum erstmal den toten Wald, die unfruchtbare Erde, den See, dessen Wasser versiegt war.
Er schaute über den See. Die Schattenwesen waren in grosser Aufregung geraten, sie irrten am Ufer umher und streckten die Arme flehend aus.
„Was habe ich ihnen angetan!“ Sagte der Schwarze König.
Ein Ausdruck grossen Leides trat in sein altersloses Gesicht. Der schwarze Mantel glitt von den Schultern und sank zu Boden. Die Dunstdecke am Himmel teilte sich, das Licht der aufgehenden Sonne brach hervor und blendete Onanie. Sie musste die Augen schliessen.
Käthe Recheis Der weisse Wolf