Das menschliche Böse

Wer das menschliche Böse in all seiner Reinheit, seinem Einfallsreichtum und seiner Willkür betrachten will, findet es in einer Shuttle-Box. Dieses Foltergerät wurde von den Psychologen R. Solomon, L. Kamin und L. Wynne an der Harvard University erfunden. Die Box besteht aus zwei durch eine Schranke getrennten Abteilungen. Den Boden beider Abteilungen bildet ein Gitter, das unter Strom gesetzt werden kann. Solomon und seine Kollegen steckten einen Hund in eine der Abteilungen und versetzten ihm über seine Pfoten dann einen starken Stromschlag. Instinktiv sprang der Hund von einer Abteilung in die andere. Dieses Verfahren wiederholten sie im Rahmen eines typischen Experiments mehrere hundert Mal. Doch der Sprung wird für das Tier immer schwerer, da die Experimentatoren die Schranke ständig erhöhen. Schließlich ist der Hund nicht mehr zu dem Sprung imstande und stürzt auf das unter Strom stehende Gitter zurück - ein keuchendes, zuckendes, schreiendes Wrack.
Bei einer Variante wird der Boden auf beiden Seiten der Schranke unter Strom gesetzt. Wohin der Hund auch springt, stets erhält er einen Stromschlag. Da der Schmerz sehr heftig ist, versucht er immer wieder zu entkommen, so sinnlos es auch ist. Also springt er von einem elektrisierten Gitter zum anderen.
Als die Forscher das Experiment zu Papier brachten, schrieben sie, der Hund habe ein »scharfes, vorwegnehmendes Jaulen« ausgestoßen, »das zu einem gellenden Schrei wurde, wenn er auf dem elektrisierten Gitter landete«. Das Endergebnis ist das gleiche: Der Hund - urinierend, seinen Darm entleerend, jaulend und zitternd - liegt erschöpft auf dem Boden. Nach zehn bis zwölf Tagen solcher Experimente leistet der Hund den Stromschlägen keinen Widerstand mehr.
Hätten Solomon, Kamin und Wynne diese Versuche in ihrer Privatsphäre unternommen, wären sie angeklagt, zu einer Geldstrafe verurteilt und wahrscheinlich für fünf bis zehn Jahre mit einem Tierhaltungsverbot belegt worden. Man hätte sie einsperren sollen. Aber da sie ihre Arbeit in einem Harvard-Labor verrichteten, wurden sie stattdessen mit den zweifelhaften Insignien des akademischen Erfolgs belohnt: mit einem bequemen Leben, großzügigen Gehältern, der Verehrung durch ihre Studenten und der Eifersucht anderer Hochschullehrer. Durch die Folterung von Hunden machten sie Karriere und brachten eine ganze Dynastie von Nachahmern hervor. Derartige Experimente setzten sich mehr als drei Jahrzehnte lang fort. Ihr berühmtester Imitator, Martin Seligman, amtierte unlängst als Präsident der American Psychological Association. Inzwischen widmet Seligman sich anderen Dingen. Er konzentriert sich nun auf das Glück. Natürlich nehmen Hunde nicht an Experimenten teil, die sie glücklich machen. Sie werden nur zu den scheußlichen Experimenten zugelassen.Warum wurde diese Folter genehmigt? Warum hat man sie als wertvolle Forschungsarbeit eingestuft? Die Experimente hatten den Zweck, das Depressionsmodell der sogenannten erlernten Hilflosigkeit zu etablieren. Es basiert auf der Annahme, dass Depression erlernt werden könne. Eine Weile maßen Psychologen ihrer Bestätigung durch die Experimente große Bedeutung zu. Allerdings kamen sie keinem Menschen je zugute. Nach 30 Jahren der Hinrichtung von Hunden und verschiedenen anderen Tieren durch Stromschläge gelangte man zu dem Schluss, dass das Modell einer sorgfältigen Prüfung nicht standhielt.

aus: Mark Rowlands Der Philosoph und der Wolf

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert