Mit dem Herzen sehen

Für Liupiu

Es ist Abend, und bevor der Tag zu Ende geht, möchte ich ihm eine Fussnote aufdrücken. Die Sonne sinkt direkt vor meinem Gesicht; ihr sterbendes Licht fällt mir in die Augen. Ein zirpender Schwarm Mauersegler erntet den fast nackten Himmel nach Mücken ab. Das Klagen einer Möwe bringt den Geruch von Meer her und streut ihn wie Salz in mein von Sehnsucht verwundetes Herz. Vor einigen Tagen hat Liupiu geschrieben "vom Licht, das jedem den Weg in die Herzen anderer weist". Ich habe diesen Satz heute Morgen gelesen, und seitdem trage ich ihn im Herzen mit. Mika liegt auf dem warmen Balkonboden und jagt still und zuckend durch wilde Wolfsträume, worin ich wahrscheinlich auch eine kleine Rolle habe. Die Wärme der sinkenden Sonne ist immer noch erstaunlich in meinem Gesicht. Meine Füsse schmiegen sich an die filigran geschwungenen Eisenbeinen des grünen Gartentischchen. Jetzt bricht die Sonne über dem First des Nachbardaches; angenehm kühle Luft flutet in mein Gesicht; und ich geniesse diese Sinneswahrnehmung fast mit Lust. Die Kinderstimmen von der Strasse unten kommen mir vor wie ein Blumenreigen. Einer Amsel ängstigendes Kreischen holt mir das Bild des rotgetigerten Katers der Nachbarn in den Sinn, der als Fittester noch die Quartierstrasse regieren würde, hätte ihn nicht gerade in diesem Augenblick Mika in seinem Traum zu Tode gebissen. Höher hebt sich der Schwarm der Mauersegler in den sich weitenden und blauenden Abendhimmel; und das Licht der Sonne entzündet die Ränder der langsam segelnden Wolken. Ein kurzer und voller Gesang einer Amsel beglückt mein Herz. Ich fühle mich dankbar, dass es sich langsam zu öffnen scheint, und dass das in meiner Jugend rätselhafte mit dem Herzen sehen allmählich zu einem alltäglichen Ereignis wird.

5.7.16

Flaschenklänge

Auf dem Balkon. Geräusche. Klänge. Unordentlicher Lärm wie ein vermülltes Meer brandet in mein Hören. Unten in der gegenüberliegenden Weinhandlung werden Flaschen umgelagert, und das Klirren des Glases verwandelt sich in Musik. Der Säugling, der beharrlich schreit aus dem Fenster eines Hauses, welches ich nicht genau lokalisieren kann. Der Lärm von Bauarbeiten in einer Seitenstrasse. Der leise Luftzug. Motorenlärm und Stimmen, ausländische und solche von spielenden Kindern. Rechts schläft Ely, ausgestreckt auf dem noch kühlen Balkonboden. Ich spüre meine Bauchdecke sich heben und senken; der Atem geht und trägt die hellen Klänge der Flaschen, die in den Harassen umgelagert werden, zu mir und wieder weg von mir. Wie stümperhaft ist doch mein Beschreiben dessen, was ich gerade erlebe. Das Leben hält mich so umfassend fest, dass eine natürliche, selbstverständliche Demut, der einzige Mut ist, den es braucht. Der Mensch überhebt sich durch die einseitige Identifikation mit seinem Verstand und seinem Ich und kann dann über diese Erfahrung die Demut wieder entdecken. Die Demut liegt und wartet  förmlich auf dem Boden der Erde auf einen sich bückenden Menschen. Niemals wird es uns gelingen, ausserhalb des Lebens zu sein. Wir sind eingewobene Fäden in diesem gewaltigen, fliessenden und klingenden und fliegenden Lebensteppich. In Wahrheit sind wir nicht einmal Fäden als vielmehr dieser fliessende Teppich selbst. Das ist das offensichtliche Geheimnis. Es ist so offensichtlich, dass wir es übersehen und mit dieser Blindheit uns vom Leben wegkapseln. Wir verschliessen unser Erleben in einen mentalen Raum wie in eine Flasche und vergessen unsere Sinneswahrnehmungen. Wir verfallen dieser verführerischen Welt, dieser einzelnen Flasche, die wir in unserem Kopf gegossen haben und die wir mit all unseren Vorstellungen, Meinungen und Bewertungen ununterbrochen umlagern. Wir stecken fest im Flaschenhals der Angst. Doch wenn wir Glück haben, geschieht irgendwann in unserem Leben eine Tatsache, der wir in die Augen schauen müssen, weil sie so stark ans Glas klirrt, dass die Flasche zerbricht...

Bild: Jonas Geburt aus dem Walfisch Gouache auf Hinterglas in einem Bad, 1990

Enttäuschung ist des Kaisers neues Kleid.

Für Tom

Der Regen regnet. Ich höre sein rieselndes Tropfen. Etwas Sanftes. In mir drin fühle ich synchron etwas Trauriges. Hatte heute eine Auseinandersetzung mit einem mir nahestehenden Menschen. Es regnet etwas kräftiger. Jetzt hat sich mein Hören verändert. Etwas Weiches liegt in meinem Bauchraum auf etwas Hartem, Spitzigem. Das Weiche liegt da wie ein Ei, und weiter oben kommt es mir weit, aber auch nass vor, wie milde Trauer, eine Art Lösen. Trauer hat etwas Lösendes. Jetzt zeichnet der Konflikt deutlich in meinen Gedanken ein Bild. Ich spüre die Spannung zwischen uns, ich spüre sie in mir, lasse sie dort sein und halte sie einwenig. Da zeigt sich Enttäuschung. Irgendwie fühle ich mich enttäuscht, andererseits ist es auch okay. Es ist so. Es herrscht Istigkeit. Wohl deshalb fühle ich jetzt etwas Friedliches in mir. Es passt zum leichten Luftzug, der vom Fenster, das  aufgeklappt ist, hineinzieht und mich berührt. Friede ist Vertrauen, Vertrauen ins Leben, Vertrauen ins Wahrnehmen, ins Nehmen des Wahren. Im Grunde genommen sind wir doch immer eingebettet. Wir sind wie ein Ei eingebettet im Nest des Erlebens, im Nest dessen, was gerade passiert, im Nest des Augenblickes. Ja, in mir ist Frieden eingezogen, vielleicht die Art von Frieden, die sich nach einer erlebten Enttäuschung einstellt. Die Enttäuschung ist des Kaisers neues Kleid. Ich habe mich getäuscht. Ich habe ein Bild gezeichnet, das ich wieder ausradieren musste, weil es nicht stimmte. Das frei radierte Blatt Papier ist ein weiter Raum, jetzt gerade im Brustbereich als Frieden erlebbar. Und etwas Aufregendes entsteht, wenn ich daran denke, dass dieser Friede vom steigenden Vertrauen ins Leben herkommt. Jetzt geschieht das Geräusch eines unten durch den Blumenweg fahrenden Autos. Die Räder des Autos zeichnen das Geräusch ins Nass der Strasse. Und der Regen ist kräftiger geworden. Die Regentropfen trommeln. Mein Rücken schmiegt sich in die Kissen des Bettsofas. Leichte Kopfschmerzen ziehen durch die Stirn wie Wolken. Und der rechte Arm zieht etwas von der Anstrengung des Schreibens. Im Einklang ist die Welt. Ein leeres Schlucken. Da ist Schmerz. Ich lege mich in den Schmerz. Ich fühle ihn. Ich respektiere ihn und bin gleichzeitig frei, frei mit dem Schmerz, der da ist, der unpersönlich durchs Leben zieht, wie ein zäher und dunkler Fluss.

Zeichnung: Der lesende Tom Kratky Bleistift auf Papier, ca. 1980

Ein Hundstag

Ich sitze auf dem Balkon unserer Stadtwohnung. Die nackten Füsse auf dem warmen Boden. Die angenehme Wärme des Steinbodens halten die Füsse fast liebend am Boden fest. Wärme scheint zu verbinden und anzuziehen. Der Balkonboden ist vielleicht nur ein klein wenig wärmer als die gefühlte Wärme in meinen Füssen. Sie macht aber den Eindruck meiner Füsse breiter. Bei den Fersen spüre ich einwenig Schmerz. Vielleicht Reste vom Schmerz des Tages, den ich durchlaufen habe. Ein Arbeitstag ist ja auch fast wie eine Wanderung, äusserlich zwar relativ eintönig und alltäglich, aber innerlich, besonders wenn der Arbeitsalltag in einer psychiatrischen Klinik stattfindet, eine aufregende Reise mit ungewissen, teilweise auch aufwühlenden und gefährlichen Begegnungen.
Mika hechelt fast ununterbrochen. Mit seinem sibirischen Pelz ist ihm die Wärme, die jetzt auch noch 8 Uhr abends herrscht, eine enorme Belastung. Keine Wärme, die verbindet, eher eine, die ihn wegjagt, um einen einsamen Ort zu finden, der einigermassen kühl ist, auch wenn es tief unten im Keller sein sollte. Trotzdem kommt er ab und zu heraus auf den Balkon und schaut durch die Gitterstäbe in das Häusertal des Blumenweges hinunter. Dieses Tal in der Stadt wirkt momentan eher unbelebt. Man hört fliessendes Wasser aus einem Wasserschlauch und feines Spritzen aus einer Giesskanne. Der Himmel fällt langsam in die Nacht. Er ist ganz ruhig und klar, und die Sonne strahlt immer dunkler. Ab und zu höre ich noch das Ziepen der Mauersegler, die den Himmel von den Mücken bereits abgeerntet haben, und sich jetzt langsam in die Nacht zurückziehen. Eine raue Stimme eines Mannes, der entweder telefoniert oder seine Frau auf einem Balkon beschwatzt. Und natürlich ab und zu das auf- oder abbrausende Motorengeräusch von an- oder abfahrenden Autos oder Motorräder in den labyrinthischen Quartierstrassen. Die Welt ist gross; das Leben ist gross. Es ist so gross, dass es mich umfängt und hält und mich schützen könnte wie eine riesige Kirche, wenn ich mich ihm nur anvertrauen würde und einwenig darauf verzichten, zu glauben, ich müsste es kontrollieren. Das Leben ist wie eine Kirche, in die einzutreten, einen den Glauben und die Hoffnung kostet. Die Unmöglichkeit und Absurdität und Ohnmacht, das Erleben auch nur annährend zu beschreiben, fällt mich zwischendurch an wie ein wildes Tier. Sie lösen keine Lähmung aus wie früher oder einen Anfall von narzistischer Überheblichkeit; jetzt ist es eher ein Wundern, das ich da sein lassen kann, ein Erstaunen über diese gewaltige Kraft und Mächtigkeit. Die Geräusche werden dann gleichsam zur Haut Gottes und berühren mich so intim wie die Wärme des Steinbodens meine Füsse und tragen und halten mich im freien Fall des Bewusstseins.

Bild: Das Meer Gouache auf Papier, 1993

Abend auf dem Balkon

Ich glaube, die Mauersegler sind schon wieder weggezogen. Der Himmel wirkt leer, nur mit ein paar schmierigen Wolken bekleckert. Links krächzt eine Krähe. Ich spüre meinen Körper im Gartenstuhl sitzen, das rechte Bein über das linke geschlagen, von den Socken befreit die Füsse. Sie geniessen die freie Luft. Ein ganz leiser Luftzug streicht über die Fusssohlen. Meine Augen brennen. Vor allem das linke weiss sich geblendet vom Abendlicht. Es tut gut, wenn ich die Augen schliesse. Sie wollen sich zudecken. Das ständige Schauen durch die schärfenden Gläser macht sie müde. Vielleicht wäre es gut, wenn sie sich von der Härte des Schauens der Alltagsrealität erholen könnten und sich dem inneren verschwommenen Schauen zuwenden. In der Ferne erklingt das zaghaftes Lied einer Amsel. Es ist, als würde ihre Hoffnung auf einen Partner allmählich verklingen. Die Stimmen meiner Nachbarn im zweiten Stock dringen herauf. Sie geniessen auch den Abend auf dem Balkon. Dieser Tag kommt mir mächtig vor. Ich hatte ein paar gute Therapiestunden, wie grosse Brecher vom Lebensmeer, die sich ans Ufer der Erkenntnis wälzten und dort brachen. Sie schenken mir ein stärkeres Sehen des Lebens. Mein Brustkorb innen fühlt sich weit an und gegen den Solarplexus aufgewühlt, bewegt. Ich weiss nicht recht, vielleicht ist da eine Art Ruhe, die sich nach einer starken Bewegung einstellt, eine Art Stille, fast räumlich, die all diese Geräusche, all dieses Pulsieren einlädt und fürstlich empfängt. Oben durchstreift ein Flugzeug den Himmel, einmotorig wie ein Tagedieb oder Strolch. Unten klappern Stöckelschuhe hart über den Asphalt. Jetzt ruft das Brennen in meinen Augen, ruft nach einer tatenlosen Achtsamkeit.

Gedanken sind wie Affen, Gefühle wie Hunde.

Für Jan

Ich bin an diesem schönen Sonntagmorgen schon früh mit Kaya und Mika vom Bluemli losspaziert. Wie immer in der freien Natur müssen sie unangeleint hinter mir her laufen. Diese führende und schützende Bewegungseingrenzung - bei Huskys besonders wichtig - funktioniert inzwischen recht gut. Ab und zu allerdings bricht beim einjährigen Mika das pubertäre Schnöselverhalten durch. Das kann sich so zeigen, dass er plötzlich, von Appetenz überwältigt, stehen bleibt und irgendein Jagdobjekt ausmacht, das ich zwar nicht entdecken kann - aber es fleucht und scheucht in einem solchen Wald ja ständig etwas Lebendiges umher und auch mit all den feinen Gerüchen, die durch den Äther jagen, kann meine dumme Nase nicht mithalten.

So spielt es sich auch heute Morgen ab. Er versteinert plötzlich und starrt, gespannt wie ein Pfeilbogen kurz vor dem Abschuss, den dunklen Abhang hinunter, indes ich vorne weiterlaufe, mich mit den süssen Gedanken des Stolzes in Sicherheit wiegend, dass meine Hunde mir heute doch besonders gut folgen, und was ich doch für ein guter Führer sei.

Da jagt er los und rast in irrem Tempo den steilen Waldabhang hinunter - ein hervorragend gelungener Einbruch in die Wildnis!

Ich wäre ihm irgendwie nachgerutscht, wenn ich nicht Sommersandalen angehabt hätte. Jetzt aber demütigt mich nur der Anblick seiner Überlegenheit an Geschwindigkeit und Bodenhaftung. Zu mehr als ein Pfeifen und Rufen, das die in den Bäumen nicht vorhandenen Affen beehrt, bin ich nicht fähig. Doch das ist jetzt sowieso für nichts, da er mich gar nicht mehr hören will und kann.

Ein paar Sekunden und Kaya und ich stehen sogar von seinen Geräuschen verlassen da. Er ist spurlos verschwunden. Von der Wildnis verschluckt. Er hat uns, obschon frische Sonnenstrahlen durch die Bäume fallen, einfach im Regen stehen gelassen.

In meiner Innenwelt sind die Himmel gebrochen. Dort regnet es nicht nur, es schüttet Wasserfälle. Eine Sintflut beginnt - ein hundsgemeiner Einbruch der chaotischen Wildheit in die geordnete Zivilisation. Eine Unmenge Gefühle, untrennbar vermengt mit unidentifizierbaren Gedanken, schütten und wühlen innert kürzester Zeit alle Flüsse über die Ufer, die das Land meiner Identität unter Wasser setzen.

Wasser aus Schmerz. Schmerz der Verlassenheit. Schmerz des Vertrauensmissbrauchs. Schmerz des Verlustes meiner Kontrolle. Schmerz des Betrugs. Dazu mischen sich die Wirbelströmungen der Angst, dass Mika etwas passieren könnte, oder dass er jetzt etwas Dummes anrichten würde, ein Reh oder ein Kalb reissen, und wie ständen wir dann da vor den Nachbarsbauern.

Diese in diesem Moment nicht wirklich empfangenen und gehaltenen, das heisst bewusst erlebten Emotionen führen dazu, dass vor allem ein Gefühl mich in die Zähne und Krallen nimmt: Wut. Ich schäume vor Wut! Ich könnte diesen Scheisshund, dieses Mistvieh verprügeln bis es jault vor lautem Schmerz und den gleichen Schmerz erlebt, den ich jetzt durch diese innere Verprügelung - von wem eigentlich? - erleide. Er soll meinen Schmerz haben! Er soll mein Leiden haben! Ich will es nicht fühlen! Ich ertrage es nicht! Weg damit! Es ist zu mächtig!

Von dieser Wut angepeitscht, mache ich mich auf den Weg, ihn zu suchen. Kaya spürt meine hässliche Laune und folgt mir devot. Ich gehe den Weg zurück und schlage mich durch den Wald von unten her in einer Kreisbewegung wieder zum Ort zurück, wo Mika uns verlassen hat.

Es ist ein bezaubernder Sommermorgen. Von Weitem hört man den Motor irgendeiner Mähmaschine, und ferne Kuhglockenklänge tropfen hinein. Alles lebt. Alles feiert das Leben im Übermass von Üppigkeit und Intensität. Die Farben prahlen. Die Insekten tanzen. Die Vögel flattern und zwitschern. Das alte Holz knackt frisch und jung unter meinen Schritten. Und sogar die bewegungsträgen Planzen scheinen ans helle Licht zu prallen vor lautem Wachsen. Ein Feuerwerk von Sinnesgaben begleitet meine Suche nach Mika. Ich laufe durch den paradiesischen Urwald des Lebens. Es ist wahnsinnig schön. Ich könnte es sehen, wenn ich nicht in dieser wahnsinnigen Wut gefangen wäre, die sich so ohnmächtig abmüht, mich vor der Angst und dem Schmerz zu schützen, und die Hoffnung zu entfachen, dass Mika heil wieder zurückkäme. Diese Angst und dieser Schmerz sind in der Blüte ihrer Kraft, innen in mir, vernachlässigt von meinem Bewusstsein, das sich durch die äussere Welt mühsam einen Weg bahnt und versucht in all diesem Unterholz, Dickicht, Sumpf, Dreck, Steinen ohne Verletzung der Füsse und Beine durchzukommen.

Es dauert ungefähr eine Viertelstunde bis wir einen steilen Sattel im Wald erreichen, der wieder dort hinaufführt, wo ungefähr die Stelle ist, wo Mika uns sitzen gelassen hat. Da breitet sich vor meinen Füssen ein riesiger grüner Teppich Heidelbeersträucher aus. Ein wunderschönes Feld in kräftigem Grün. Es liegt sogar in der Nähe des Bluemli. Diesen Herbst will ich mich daran erinnern und seine Beeren gewinnen.

Plötzlich wird mir bewusst, dass das Hecheln von Kaya, die mir treu nachläuft, stärker geworden ist. Ich drehe mich um: Mika, als wäre nichts gewesen, als wär's immer so gewesen, läuft brav hinter mir her.

Die Zeit hat eine Schlaufe gemacht und ist wieder in der Gegenwart angekommen. Was für ein Unsinn! Die Zeit kann keine Schlaufe machen. Es gibt keine Zeit. Es ist immer nur Jetzt. Im direkten Leben, in der Ersten Welt gibt es keine Vergangenheit, nur eine hohle und schale Idee davon. Verabschiede dich doch davon, verneige dich vor deiner Vorstellung der Vergangenheit und lasse sie gehen. So wie Mika. Er hat`s zwar einfacher, er muss sich im wahrsten Sinn des Wortes nicht verneigen wie ich, er läuft schon verneigt umher, er baut nicht ständig Vergangenheiten und Zukünfte zu Wolkenkratzer auf. Weiss er überhaupt (noch), dass er mich verlassen hat, dass er mich sitzen lassen hat, dass er mich betrogen hat? Er ist wie immer, in der ständigen Verneigung gross, ein wolfsähnlicher Hund voll Schönheit, Kraft und Ausstrahlung.

Es ist alles in Ordnung. Die Wut muss irgendwo, ohne dass ich's gemerkt habe, im kräftigen Grün des Heidelbeerfeldes versickert sein. Die Angst ist vielleicht angesichts der Üppikeit des Lebens verwelkt und hat den Schmerz in die Vergänglichkeit mitgerissen.

Ein Glücksgefühl macht sich breit, das wie die Quellen des Grundwassers tief unten immer da ist, ein golden fliessendes Mitgefühl, ein innerer Reichtum, der immer in der Natur zu finden ist und der sich darin gründet, dass das Leben in Wahrheit nie verlassen werden kann. Alles ist Leben. Sogar wir Menschen, auch wenn wir's vergessen, wir sind pures Leben, wir sind Natur, wir sind Tiere, wir sind Hunde, wir sind Mika, nichts anderes.

Mein Verstand mutmasst, dass Mika einen Anfall hatte, eine Mischung von pubertärem Verhalten und potientieller Souverenität. Er lebt momentan in diesem inneren Konflikt, einerseits eine starke, selbstbewusste Hundepersönlichkeit auszubilden und andererseits den Schutz einer gut sorgenden Menschengemeinschaft zu erhalten.

Aber in Wahrheit hat er mir eine Lehre erteilt. Hallo Mensch, hat er gesagt, ich zeige dir jetzt, wie du mit dir umgehst. Du verlässt dich nämlich ständig, du verlierst dich in deinem Affengeist, du wirst dir untreu, du betrügst dich, du verlässt dein inneres Leben, deine Gefühle, deine Körperempfindungen, genau gleich, wie ich dich eben verlassen hab. Deshalb schick ich dir ab und zu eine Sintflut. Damit du eine Arche Noah baust, ein grösseres Gefäss für deine Gefühle, so kannst du sie einladen, sie empfangen, sie benennen, sie zählen, sie sehen, sie fühlen. Und wenn deine Arche schwimmt, komm ich wieder an deine Seite. Ich habe nämlich kein Problem mit Gefühlen. Ich bin dein Fühlen.

Ein Loch im Blumenbeet

Heute ist ein Morgen an einem Samstag, ungefähr 8 Uhr. Ich sitze auf dem vor nicht langer Zeit gebauten, gegen Süden ausgerichteten Holzbänklein des alten Bauernhäuschen. Ein andauerndes Geräusch von der Stalllüftung des grossen Bauernhauses unten kommt vom Tal herauf. Die Gegend scheint verschummert. Nach vielen Tagen heisser und harter Trockenheit hat es über Nacht, unterstützt von kräftigen Gewittern, endlich wieder mal geregnet. Und heute wirkt der Tag wie eine schlecht ausradierte Bleistiftzeichnung. Auch mein Kopf hat etwas Verschwommenes. Ich merke die grosse Mühe, mit der ich mich plage, das Aussen und Innen hier in Worte zu fassen.

Gestern hatte ich viele leichte und glückliche Phasen des Fliessens. Jetzt fühlt es sich irgendwie zäh an und ausgefranselt. Gestern schien es eine Richtung zu haben. Heute scheint es zu dümpeln. Meine Füsse spüren die offene, leichte Form der Birkenstocksandalen, in denen sie stecken. Das Geräusch eines Traktors kommt vom anderen Bauernhof das Tal hinauf. Jetzt verstummt es wieder. Und regelmässig regnet es Kuhglockenklänge. Irgendein Duft von wilder Pflanze dringt sanft in meine Nase. Und die alte Mauer des alten Bauernhäuschens liebkost meinen Rücken. Diese Berührung ist so angenehm und kommt mir so alt vor wie eine lebenslange, treue Liebesbeziehung.

Ein Grün beherrscht den heutigen Tag, eine Art Fichtengrün. Der Himmel ist wolkenverhangen. Er scheint auf den Tag zu drücken. Vielleicht darum auch meine leichten Kopfschmerzen über den Augen. Jetzt setzt sich Ely rechts an meine Seite, und wir schauen gemeinsam ins Tal hinunter.

Im Grunde genommen ist der Boden des Lebens Glück. Egal was an der Oberfläche gerade vorherrscht oder durch die Luft der Gedanken und Gefühlen schwirrt, der Grund ist immer Glück. Das Glück des Lebens, des Da-Seins. Darauf stehe ich, darauf gehe ich und darauf wandere ich. Dieses Glück ist Stille, zwecklose, sinnlose, nutzlose Stille. Einfach so. Sie ist immer da und trägt alles. Auch die Schreie des Rotmilans, die jetzt in die Dumpfheit des heutigen Tages ein paar klare Wunden schlagen, die aber von der Stille sofort zugeheilt werden; und alles dümpelt wieder vor sich hin.

Gestern habe ich viel gelesen, seit Jahren wieder einmal Jiddu Krishnamurti. Seine Worte machen mich glücklich. Ich lese sie, und die Wahrheit ist da, unübersehbar, unüberlebbar.

Auch in Arnold Mindell`s Buch Dance of the Ancient One. Beim Lesen ist mir, als würde ich es selber schreiben. Ich hab es ja schon einmal gelesen. Aber als ich gestern las, war mir, als wäre es das erste Mal. Ich staunte immer wieder über diese offensichtliche Soheit, die ich genau so sehe, und die mir immer wieder neu in die Sinnen fliesst, wie das fortwährende, beharrliche Geräusch der Lüftung vom Stall unten, aufgefrischt mit den leichten Kuhglockenklängen von links.

Eigentlich gibt es kein Wissen. Wissen ist tot. Es gibt nur immer wieder neues Sehen. Neu gefundene, neu und frisch entdeckte Einsichten. Einsichten, die sich wie Herzschläge aneinanderreihen oder wie Atemzüge.

Ely hat seinen kleinen Kopf auf meinen rechten Fuss gelegt. Ich spüre seine Körperwärme, wie sie voll Entzücken in mein Herz fliesst und dort wie ein Fluss ins Meer des Glücks mündet.

Und jetzt weiss ich, was diese Dumpfheit über dem heutigen Tag ist: Es ist der Segen aus der verschwommenen Welt des Träumens. Es ist, als wäre über Nacht in der Alltagsrealität ein Riss entstanden, und durch diesen Riss fliesst jetzt das Träumen in die Welt.

Und angekündigt von ein paar überraschenden Windstössen beginnt es zu regnen.

Ich stehe auf und nehme mir vor, das von den Hunden über Nacht gescharrte Loch im Blumenbeet heute noch offen zu lassen und es erst am Sonntag, bevor wir in die Stadt gehen, wieder aufzufüllen.

7.7.2015

Ich liege auf dem Sofa in der Stube des alten Bauernhäuschens. Es ist halb drei. Unter dem Esstisch höre ich das Hitzeschnauben von Mika. Rechts neben mir auf dem Holzboden bearbeitet Ely mit welpischer Leidenschaft ein Stück getrocknete Rinderhirnhaut. Kaya ist irgendwo draussen. Von dort kommt auch der hartnäckig wiederkehrende, langatmige Lärm eines Kunstfliegers, der angestrengt versucht, dem Himmel seine goldene Unterschrift einzugravieren.

Eine grosse Hitze herrscht. Seit Tagen hat sie sich aufgebaut. Nun scheint sie ihren Höhepunkt erreicht zu haben und sollte mit heftigen Gewitter wieder abziehen, zumindest nach Wettervorhersage. Es sind vorgezogene Hundstage. Das ganze Land hechelt. Ich wollte eigentlich schon frühmorgens einige noch anstehende Aufräumarbeiten in die Hände nehmen, aber ich fühlte mich derart faul und träge, dass ich den halben Morgen auf dem Sofa verschlafen habe. Endlich wieder mal einen unnützen Tagschlaf mit viel Träumen!

Vorhin, als ich mit den verschwommenen Augen eines Taugenichts die uralte Zimmerdecke des Bauernhäuschens anschaute und in den zahllosen, verzierten Hieroglyphen der Holzwürmer zu lesen versuchte, wie es hier vor 200 Jahren am 7.7.1815 wohl ausgesehen haben mag, wer hier sass oder lag, wie die Landschaft rundum bewachsen war, da fällt mir plötzlich ein, dass ich in der ganz nahen Vergangenheit, nämlich am 7.2.2015, also vor genau fünf Monaten, auch auf diesem Sofa gelegen bin, zur nämlichen Zeit, auch in einem unnützen Zustand, allerdings unnütz durch seine chaotische Verstörtheit: Mika und Kaya hatten sich draussen im Schnee ungeplant gedeckt, und die unweigerlich anstehenden Folgen passten überhaupt nicht in unser Leben.

Ich schaue auf Ely, dem letztgeborenen Sohn aus dieser Verbindung, der bereits ein kräftiger Welpe ist und mit seinen neun Kilogramm Körpergewicht und seinem entwaffnenden Blick jetzt am Boden der Realität sein Leben feiert.

Welches Wunder! Welche Inkarnation und Fleischwerdung in dieser kurzen Zeit! Vielleicht fressen die Hunde darum so viel Fleisch, weil sie so schnell werden und weil sie so rasend reisen. Sie sind so nah an der Materie und doch, wenn ich in ihren Augen ihre Tiefe ergründen möchte, wirken sie derart weit, vergeistigt und spirituell. Ist das Palindrom dog/god in der englischen Sprache eigentlich ein Zufall?

Wir hätten damals Kayas Empfängnis wegspritzen können. Wir haben es uns auch überlegt, obschon für mich sofort klar war, dass wir ihrem Weg folgen würden. Ursula war sich da zuerst nicht sicher. Bis sie mich anrief und sagte, Kaya will es so.

Und jetzt sind wir durch. Heute Abend gehts zurück in die Stadt. Ich nehme meine 4 Tage Arbeit als Therapeut in der Psychiatrischen Klinik wieder auf; die stark befahrene Strasse des Alltags wartet, dass wir unser Leben wieder dort einzweigen.

Und Kaya und Mika hatten recht. Sie haben uns den Weg gezeigt. Der Weg ging da durch. Dieses Stück Leben wollte gelebt werden. Wir sind um eine wunderbare Erfahrung reicher. Sie haben uns nicht nur einen guten, ausgewogenen Wurf geschenkt, wir haben neben den guten Plätzen für die Welpen auch wunderbare Menschen kennengelernt, die ähnliche Einstellungen zum Leben pflegen. Ich habe zwar vielleicht zwei Kilogramm an Körpergewicht abgenommen, dafür einiges an spezifischem Gewicht angesetzt. Und mein Blick in die Weite ist kräftiger, mein inneres Sehen klarer.

Ich danke euch Hunde, Kaya und Mika, für diese wundervolle Reise, durch die ihr uns so sicher geleitet habt!

An einem Donnerstag im April

Es ist ein Tag an einem Donnerstag im April. Ich sitze auf dem blauen Sofa, neben mir liegt Kaya ausgestreckt, entspannt. Draussen auf dem Balkon ist Mika, er liebt die Kälte, die zwar heute nicht so recht zum April passen will.
Das Leben zittert, es ist da, immer, ich beschreibe es, ich notiere es, sinnlos, sisyphoisch, und trotzdem tut es irgendwie gut, es stärkt mein Da-Sein, zieht meine Identifikation weg vom Verstand; mein Körper, der Rücken spürt das Kissen, meine Fusssohlen spüren den Druck des Sofas, besonders die Fersen; so reich ist das Leben, sind die ständigen Sinneseindrücke, dass es mir ganz verständlich erscheint, dass wir nicht nachkommen, dieses Erleben zu beschreiben.
Weshalb, frage ich mich, träumte ich diese Nacht, wie so oft, ich wäre unvorbereitet oder wichtige Dinge meines Alltags vergessend mit dem Zug auf eine weite Reise gegangen? Im Zug habe ich dann festgestellt, dass mein Kontaktlinsenbehälter und die Kontaktlinsenflüssigkeit noch daheim sind. Auch habe ich keine anständigen Kleider dabei. Es geht an irgendein familiäres Treffen, mit Grosspapa, könnt in Italien sein, bei meinen Verwandten dort.
Es ist ein übles Gefühl so im Zug zu sitzen. Ich kenne dieses Gefühl. Nicht vorbereitet, nicht bereit, dem nächsten Moment zu begegnen oder zu stark in der Angst vor dem nächsten Moment. Weshalb will der Traummacher, dass ich immer wieder dieses Gefühl erlebe? Denn anders kann ich`s nicht ansehen, als eine fortwährende Einladung, diese Unvorbereitung zu fühlen.
Wenn ich nicht vorbereitet bin, was passiert dann? Dann bin ich irgendwie deplaziert, irgendwie falsch, falle auf; andererseits zwingt mich dieses "unvorbereitet" in den Augenblick, zwingt mich weg vom Planen, von der Vorstellung, wie es sein könnt, und ich muss ganz in den Moment. Es entsteht Kontakt, Leben, und ich komme an im Leben der Improvisation, der Kreation und werde spontan.
Das Leben ist immer da, ich vergesse es; es erinnert mich, weil ich`s vergessen hab. Schlechte Gefühle, sogar in der Nacht, erzeugt durch üble Geschichten, erinnern mich, hinzuschauen und diese Gefühle zu erleben und zu fühlen und damit wieder in den Fluss des Lebens zu steigen, den ich in Tat und Wahrheit gar nie verlassen konnte. Das Vergessen führt zum Erinnern. Die Entdeckung des Vergessens. Die Entdeckung des Verlierens. Die Entdeckung des Versagens. Die Entdeckung des Falschen, des Fehlers. So, scheint es, funktioniert das menschliche Leben.