Gedanken sind wie Affen, Gefühle wie Hunde.

Für Jan

Ich bin an diesem schönen Sonntagmorgen schon früh mit Kaya und Mika vom Bluemli losspaziert. Wie immer in der freien Natur müssen sie unangeleint hinter mir her laufen. Diese führende und schützende Bewegungseingrenzung - bei Huskys besonders wichtig - funktioniert inzwischen recht gut. Ab und zu allerdings bricht beim einjährigen Mika das pubertäre Schnöselverhalten durch. Das kann sich so zeigen, dass er plötzlich, von Appetenz überwältigt, stehen bleibt und irgendein Jagdobjekt ausmacht, das ich zwar nicht entdecken kann - aber es fleucht und scheucht in einem solchen Wald ja ständig etwas Lebendiges umher und auch mit all den feinen Gerüchen, die durch den Äther jagen, kann meine dumme Nase nicht mithalten.

So spielt es sich auch heute Morgen ab. Er versteinert plötzlich und starrt, gespannt wie ein Pfeilbogen kurz vor dem Abschuss, den dunklen Abhang hinunter, indes ich vorne weiterlaufe, mich mit den süssen Gedanken des Stolzes in Sicherheit wiegend, dass meine Hunde mir heute doch besonders gut folgen, und was ich doch für ein guter Führer sei.

Da jagt er los und rast in irrem Tempo den steilen Waldabhang hinunter - ein hervorragend gelungener Einbruch in die Wildnis!

Ich wäre ihm irgendwie nachgerutscht, wenn ich nicht Sommersandalen angehabt hätte. Jetzt aber demütigt mich nur der Anblick seiner Überlegenheit an Geschwindigkeit und Bodenhaftung. Zu mehr als ein Pfeifen und Rufen, das die in den Bäumen nicht vorhandenen Affen beehrt, bin ich nicht fähig. Doch das ist jetzt sowieso für nichts, da er mich gar nicht mehr hören will und kann.

Ein paar Sekunden und Kaya und ich stehen sogar von seinen Geräuschen verlassen da. Er ist spurlos verschwunden. Von der Wildnis verschluckt. Er hat uns, obschon frische Sonnenstrahlen durch die Bäume fallen, einfach im Regen stehen gelassen.

In meiner Innenwelt sind die Himmel gebrochen. Dort regnet es nicht nur, es schüttet Wasserfälle. Eine Sintflut beginnt - ein hundsgemeiner Einbruch der chaotischen Wildheit in die geordnete Zivilisation. Eine Unmenge Gefühle, untrennbar vermengt mit unidentifizierbaren Gedanken, schütten und wühlen innert kürzester Zeit alle Flüsse über die Ufer, die das Land meiner Identität unter Wasser setzen.

Wasser aus Schmerz. Schmerz der Verlassenheit. Schmerz des Vertrauensmissbrauchs. Schmerz des Verlustes meiner Kontrolle. Schmerz des Betrugs. Dazu mischen sich die Wirbelströmungen der Angst, dass Mika etwas passieren könnte, oder dass er jetzt etwas Dummes anrichten würde, ein Reh oder ein Kalb reissen, und wie ständen wir dann da vor den Nachbarsbauern.

Diese in diesem Moment nicht wirklich empfangenen und gehaltenen, das heisst bewusst erlebten Emotionen führen dazu, dass vor allem ein Gefühl mich in die Zähne und Krallen nimmt: Wut. Ich schäume vor Wut! Ich könnte diesen Scheisshund, dieses Mistvieh verprügeln bis es jault vor lautem Schmerz und den gleichen Schmerz erlebt, den ich jetzt durch diese innere Verprügelung - von wem eigentlich? - erleide. Er soll meinen Schmerz haben! Er soll mein Leiden haben! Ich will es nicht fühlen! Ich ertrage es nicht! Weg damit! Es ist zu mächtig!

Von dieser Wut angepeitscht, mache ich mich auf den Weg, ihn zu suchen. Kaya spürt meine hässliche Laune und folgt mir devot. Ich gehe den Weg zurück und schlage mich durch den Wald von unten her in einer Kreisbewegung wieder zum Ort zurück, wo Mika uns verlassen hat.

Es ist ein bezaubernder Sommermorgen. Von Weitem hört man den Motor irgendeiner Mähmaschine, und ferne Kuhglockenklänge tropfen hinein. Alles lebt. Alles feiert das Leben im Übermass von Üppigkeit und Intensität. Die Farben prahlen. Die Insekten tanzen. Die Vögel flattern und zwitschern. Das alte Holz knackt frisch und jung unter meinen Schritten. Und sogar die bewegungsträgen Planzen scheinen ans helle Licht zu prallen vor lautem Wachsen. Ein Feuerwerk von Sinnesgaben begleitet meine Suche nach Mika. Ich laufe durch den paradiesischen Urwald des Lebens. Es ist wahnsinnig schön. Ich könnte es sehen, wenn ich nicht in dieser wahnsinnigen Wut gefangen wäre, die sich so ohnmächtig abmüht, mich vor der Angst und dem Schmerz zu schützen, und die Hoffnung zu entfachen, dass Mika heil wieder zurückkäme. Diese Angst und dieser Schmerz sind in der Blüte ihrer Kraft, innen in mir, vernachlässigt von meinem Bewusstsein, das sich durch die äussere Welt mühsam einen Weg bahnt und versucht in all diesem Unterholz, Dickicht, Sumpf, Dreck, Steinen ohne Verletzung der Füsse und Beine durchzukommen.

Es dauert ungefähr eine Viertelstunde bis wir einen steilen Sattel im Wald erreichen, der wieder dort hinaufführt, wo ungefähr die Stelle ist, wo Mika uns sitzen gelassen hat. Da breitet sich vor meinen Füssen ein riesiger grüner Teppich Heidelbeersträucher aus. Ein wunderschönes Feld in kräftigem Grün. Es liegt sogar in der Nähe des Bluemli. Diesen Herbst will ich mich daran erinnern und seine Beeren gewinnen.

Plötzlich wird mir bewusst, dass das Hecheln von Kaya, die mir treu nachläuft, stärker geworden ist. Ich drehe mich um: Mika, als wäre nichts gewesen, als wär's immer so gewesen, läuft brav hinter mir her.

Die Zeit hat eine Schlaufe gemacht und ist wieder in der Gegenwart angekommen. Was für ein Unsinn! Die Zeit kann keine Schlaufe machen. Es gibt keine Zeit. Es ist immer nur Jetzt. Im direkten Leben, in der Ersten Welt gibt es keine Vergangenheit, nur eine hohle und schale Idee davon. Verabschiede dich doch davon, verneige dich vor deiner Vorstellung der Vergangenheit und lasse sie gehen. So wie Mika. Er hat`s zwar einfacher, er muss sich im wahrsten Sinn des Wortes nicht verneigen wie ich, er läuft schon verneigt umher, er baut nicht ständig Vergangenheiten und Zukünfte zu Wolkenkratzer auf. Weiss er überhaupt (noch), dass er mich verlassen hat, dass er mich sitzen lassen hat, dass er mich betrogen hat? Er ist wie immer, in der ständigen Verneigung gross, ein wolfsähnlicher Hund voll Schönheit, Kraft und Ausstrahlung.

Es ist alles in Ordnung. Die Wut muss irgendwo, ohne dass ich's gemerkt habe, im kräftigen Grün des Heidelbeerfeldes versickert sein. Die Angst ist vielleicht angesichts der Üppikeit des Lebens verwelkt und hat den Schmerz in die Vergänglichkeit mitgerissen.

Ein Glücksgefühl macht sich breit, das wie die Quellen des Grundwassers tief unten immer da ist, ein golden fliessendes Mitgefühl, ein innerer Reichtum, der immer in der Natur zu finden ist und der sich darin gründet, dass das Leben in Wahrheit nie verlassen werden kann. Alles ist Leben. Sogar wir Menschen, auch wenn wir's vergessen, wir sind pures Leben, wir sind Natur, wir sind Tiere, wir sind Hunde, wir sind Mika, nichts anderes.

Mein Verstand mutmasst, dass Mika einen Anfall hatte, eine Mischung von pubertärem Verhalten und potientieller Souverenität. Er lebt momentan in diesem inneren Konflikt, einerseits eine starke, selbstbewusste Hundepersönlichkeit auszubilden und andererseits den Schutz einer gut sorgenden Menschengemeinschaft zu erhalten.

Aber in Wahrheit hat er mir eine Lehre erteilt. Hallo Mensch, hat er gesagt, ich zeige dir jetzt, wie du mit dir umgehst. Du verlässt dich nämlich ständig, du verlierst dich in deinem Affengeist, du wirst dir untreu, du betrügst dich, du verlässt dein inneres Leben, deine Gefühle, deine Körperempfindungen, genau gleich, wie ich dich eben verlassen hab. Deshalb schick ich dir ab und zu eine Sintflut. Damit du eine Arche Noah baust, ein grösseres Gefäss für deine Gefühle, so kannst du sie einladen, sie empfangen, sie benennen, sie zählen, sie sehen, sie fühlen. Und wenn deine Arche schwimmt, komm ich wieder an deine Seite. Ich habe nämlich kein Problem mit Gefühlen. Ich bin dein Fühlen.

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