Ein Traum und eine Antwort aus dem Alltag

Lieber Martin

Seit dem 9. Mai habe ich fast täglich in deinen Blog hineingeschaut. Zuerst waren es die Hunde, die meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen, aber allmählich begann ich mich auch auf deine persönlichen Beiträge zu freuen. Es ist für mich gut spürbar gewesen, wie im Verlaufe dieser Wochen bei dir die Lebensfreude und die Zuversicht gewachsen sind. Diese Mischung macht diesen Blog einzigartig. Einerseits beschreibt er das Heranwachsen der Welpen mit wunderschönen Bildern, andererseits ist darin auch der Weg erkennbar, den ihr selbst in dieser Zeit gemacht habt, von tiefer Unsicherheit bis zum Entschluss, das Wagnis mit diesen sieben Huskys einzugehen, von einem grossen Vorhaben und dessen Umsetzung mit allen zur Verfügung stehenden Kräften. Und je mehr sich das gute Gelingen am Horizont abzeichnet, desto mehr sprudeln deine kreativen Ideen.
Dein Blog kommt mir im Nachhinein vor wie die Schriften, die in früheren Jahrhunderten von Mönchen verfasst wurden. Sie schrieben einerseits die Geschichte, in ihrem Fall wohl einen biblischen Text. Daneben aber schmückten sie die Anfangsbuchstaben der Schriften und die Ränder der Seiten mit allerlei wundersamen Bildern und liessen dabei ihrer Fantasie und ihrer Gestaltungsfreude freien Lauf.
Vorletzte Nacht hatte ich einen Traum: Mein Sohn und ich gehen mit den Hunden spazieren. Ayscha läuft vorne, wie sie es ihr Leben lang getan hat. Benja nehme ich nicht wahr, vermute aber, dass sie dicht hinter uns geht. Auf einmal sind auch alle eure Welpen dabei. Wir kommen auf eine mit Stauden und Buschwerk bewachsene Wiese. Plötzlich tauchen mehrere Katzen vor uns auf. Einen Augenblick stehen alle still, die Katzen, die Hunde und wir Menschen. Ich will Ayscha abrufen, aber da ist es auch schon zu spät. Die Katzen stieben auseinander, Ayscha hinterher. Als erster folgt ihr Tikaani. Und dann führt Ayscha alle zur Jagd.
Im Traum bin ich darüber verärgert und besorgt. Als ich aber erwache und feststelle, dass keiner Katze etwas passiert ist, steigt in mir allmählich Freude auf. Von früheren Erfahrungen weiss ich: Sobald ich von einer verstorbenen Person (in diesem Fall Ayscha) träume, ist es gut. Und ich spekuliere ein bisschen: Vielleicht war es gar nicht Tikaani, der als erster Ayscha nachgefolgt ist. Womöglich war es der achte Welpe?
Jetzt wird es dann wohl allmählich stiller werden auf der Welpenalp. Ich wünsche euch viel Kraft zur Bewältigung auch dieser Phase und eine gute Rückkehr ins Alltagsleben.

Herzlich

Catherine

Liebe Catherine

Welch ein schöner Traum! Seine Schönheit regt mich an, deinen Kommentar als neuen Blogeintrag zu benutzen und dir eine lange Antwort zu schreiben.

Dein Traum spielt in den Ewigen Jagdgründen (The Happy Hunting Ground), wo Ayscha (Die Lebendige) jetzt lebt.

Und wir auch. Nur erleben wir uns nicht dort. Wir grenzen die Ewigen Jagdgründe in der alltäglichen Realität aus. Wir tun so, als würden sie nicht existieren oder uns nichts angehen oder vielleicht irgendwann mal in ferner Zukunft.

Erst wenn ein Wesen, zu dem wir eine Bindung aufgebaut haben, stirbt, dann trifft das die Selbstverständlichkeit unseres Selbstbildes schockartig und erschüttert unseren Verstand, unser Ich denke, also bin ich. (Descartes)

Denn unser Verstand funktioniert hauptsächlich in der alltäglichen Realität gut; er kann nicht viel anfangen mit den Ewigen Jagdgründen, mit den anderen Welten; die kann er nicht wirklich begreifen.

Die Träume aber tauchen auf aus den Ewigen Jagdgründen wie die Blasen vom Grund des Glases voll frischem kohlensäurenhaltigem Mineralwasser auf dem Tisch. Wenn wir auf das Träumen achten würden, anstatt es ständig ob all unseren vielen Alltagspflichten und -sorgen wegzuschieben, dann könnte es uns wieder an die tiefe Vielfalt, an all diese zahllosen Parallelwelten, an das Ganze, an das Heilige und Heilsame, an die vollkommen einfache Grundstruktur des Lebens erinnern, und wir könnten es als genauso wertvolles Erleben zulassen, begleiten und unterstützen wie unser Erleben der Alltagswelt.

Und unser Leben würde wieder voll Zauber, Wunder, Synchronizitäten und gespürten Verbundenheiten. Es würde nicht nur reicher sondern auch freier. Wir könnten besser atmen. Wir würden dann nicht nur die Luft der Alltagsrealität atmen, sondern auch die der anderen Welten. Wir hätten wieder den Traumatem, den Todesatem, den Geburtsatem, den Schlafatem und natürlich den Hundeatem.

Hunde sind die kraftvollsten Vermittler zwischen diesen Welten. Weil sie uns in der sozialen Struktur so ähnlich sind und weil sie wie kein anderes Tier so nah unseren Alltag teilen. Wir führen sie, wir schützen sie und arrangieren uns mit ihnen, damit sie in der anthromorphen Realität bestehen können und mit so wenig Leid als möglich leben dürfen. Schliesslich sind wir ihnen diese Verantwortung schuldig, denn wir haben sie aus ihrer Wolfs-Welt in unsere Mensch-Affen-Welt hinüber verführt, wir haben sie domestiziert.

Aber eigentlich, tief drin, in ihrer Grundstruktur bleiben unsere Hunde Wölfe und leben wie Wölfe. Das heisst, sie jagen auch im Alltag weiterhin in den Ewigen Jagdgründen.

In diesem Zusammenhang wird gern vergessen, dass das Wichtigste im Leben des Wolfes neben den täglichen ca. 16 (!) Stunden Schlaf mit all seinem Träumen, das Jagen in den Jagdgründen ist. Die Sexualität und all die Betrügereien, Tricksereien, Intrigen und Machtkämpfen, die unweigerlich damit einhergehen, lebt der Wolf nur drei Wochen im Jahr, weshalb sie sein Leben viel weniger bestimmen als das der Affen und das von uns Menschen. Diese wichtige Verschiedenheit zu uns und die Konsequenzen daraus hat der Philosoph Mark Rowlands im dem genialen Buch Der Philosoph und der Wolf  ausgearbeitet.

So findet das Wie im Leben des Hundes, sein strukturiertes inneres Erleben, das sein Handeln motiviert, immer noch dort statt, wo der Wolf jetzt lebt, und es findet dem Wolfsverhalten synchron statt. Deshalb ist es auch für das Verständnis des Hundeverhalten derart wichtig, den Wolf in der Freiheit zu beobachten. So verstehen wir sein Verhalten und fühlen sein Wesen.*
(Siehe die Bücher von Günther Bloch und Elli Radinger.)

Zum Beispiel kann die Frage, ob ein Welpe Welpenschutz hat, nicht nur über schmerzhafte Versuche oder gar aufwendige Experimente geklärt werden; die Antwort zeigt sich uns viel schlichter und eleganter mittels des gesunden Menschenverstandes (common sense), der das wölfische Verhalten beobachtet. Der allerdings scheint momentan genau so selten anzutreffen zu sein, wie der Wolf in unserem Land.

Wie begegnet ein Wolf einem Welpen? Wenn es einer aus seinem Rudel ist, dann wird er ihn schützen. Wenn es aber einer aus einem fremden Rudel ist, wird er ihn sofort töten. Deshalb hat auch ein Hund nur wirklichen Schutz innerhalb des eigenen Rudels, hingegen können Begegnungen mit fremden Hunden für den Welpen ganz bös enden.

Dass der Wolf in den letzten Jahren nun auch wieder seinen Lebensraum bei uns einfordert, ist im Grunde genommen auch ein Traum, den wir momentan kollektiv träumen. Der Wolf taucht wieder auf nach jahrhundertelanger Verfolgung, Ausgrenzung, Unterdrückung bis zur Fastausrottung, und nicht nur der reale Wolf in Italien, Deutschland und in der Schweiz, sondern auch der Wolf im Hund und der Wolf in unserer Psyche.
(Zum Beispiel in Clarissa Pinkola Estés Die Wolfsfrau.)

Denn auch im Hund wurde und wird weiterhin der Wolf als das Böse und Falsche ausgegrenzt und unterdrückt. Denk nur, was wir vom Hund alles als selbstverständlich abverlangen:

Er soll nicht jagen, keine Katzen, keine Hühner, nicht einmal Mäuse - die übertragen Krankheiten; er darf nicht natürliches Rohfleisch und Knochen fressen - die wissenschaftliche Werbung hört nicht auf, uns erfolgreich vorzugaukeln, der Hund bleibe nur gesund, wenn er ein Leben lang die gleiche industrielle Trockennahrung schlucke, die ein Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, nur schlucken würde, wenn er sich auf der Reise zum Mars befände; er soll schon vor der Pubertät seine Eier abgeben - die er dann ausgewachsen mit etwas Glück als Kunsteier wieder montiert zurückkriegt, zumindest in der USA; er darf keine Stehohren mehr haben, keine wolfsähnliche Schnauze mit den imposanten Zähnen, sondern ein Jö- oder Affengesicht; er soll eh kindlich bleiben und darf nicht erwachsen werden; er darf nicht mehr gross und selbstsicher sein; er darf nicht raufen, knurren, kämpfen; er darf seine Grenzen und sein Territorium nicht schützen; nicht Respekt von andern einholen; er muss an der Leine laufen, darf nicht streunen; er darf keine Menschen erschrecken - die Angst des Menschen vor dem Hund ist heilig, aber die Angst des Hundes vor dem Menschen muss ihm als vom Teufel ausgetrieben werden; er darf nicht als Familienorganisation (Vater und Mutter) seine Welpen aufziehen - kurz, seine innerste Struktur, seine wilde Wolfsnatur wird fortwährend unterdrückt, imperialisiert, kolonialisiert, marginalisiert, ausgebeutet.

Das läuft wie ein Virenprogramm im Hintergrund eines Computerbildschirms schon seit Jahrhunderten unter dem euphemistischen Begriff der Domestikation. Euphemistisch deshalb, weil wir das nicht sehen, weil wir in unserer Anthropozentrik das andere Wesen permanent vergessen; es ist unbewusst, ausgeblendet, genauso wie wir unsere Körperempfindungen und -impulse, unsere Gefühle, unsere Träume, Phantasien, Instinkte, das intuitiv Gespürte, den Felt Sense (Focusing), unsere Buddha-Natur fortwährend ausblenden.

Wenn wir den Mut hätten, genau hinzuschauen, würden wir sehen, wie wir den Hund immer noch tagtäglich benutzen und missbrauchen; früher und in anderen Ländern noch tendenziell mehr als Sache, heute in unserer Kultur vermehrt narzistisch emotional.

Zum Beispiel dieser Mann, der, 90 Jahre alt und nicht mehr wirklich mobil, sich übers Internet einen Labradorwelpen kauft. Alle, auch seine Frau, haben ihm gesagt, er solle das lassen, er sei nicht mehr in der Lage, angemessen zu einem solchen Hund zu schauen. Aber der alte Mann lebt nicht mehr wirklich in der Realität. Er vermischt die Welten und merkt es nicht. So wie eine Magersüchtige sich im Spiegel als dick sieht, so sieht er sich im Spiegel nicht als greiser, gesundheitlich angeschlagener, nicht mehr mobiler Mann, der langsam aber sicher auch körperlich in die ewigen Jagdgründe aufbricht; sondern er sieht sich als jung und vital und behandelt die Umgebung, seine Mitmenschen dementsprechend. Da seine Frau neben ihm derart alt aussieht, muss er sie natürlich dauerverachten.

Er macht das, weil er dem eigenen Schmerz nicht in die Augen sehen kann, dem Schmerz über den Tod des alten Hund, der vor nicht langer Zeit gestorben ist, dem Schmerz über den allmählichen Kontrollverlust, über das Schwinden der Lebenskräfte, dem Schmerz der starken emotionalen Verwahrlosung aus der eigenen Kindheit. Er hat keine Werkzeuge und Hinweise mitbekommen, wie man eine gute Beziehung aufbauen kann mit der inneren Welt. Er hat eine starke, äusserlich auch erfolgreiche Einseitigkeit entwickelt, lebt, obschon wohlbemittelt, in einem konstanten Gefühl des Mangels und hat den Kontakt mit seinem inneren Reichtum längst verloren. Und weil er seinen Schmerz innerlich permanent unterdrückt und bekämpft, blüht dieser im Untergrund. Er wird zu seiner Austrahlung und beginnt als Schmerzkörper wie ein Monster sich vom Schmerz in der Umgebung zu ernähren, den er dort erzeugt, weil der Mann ihn selbst nicht fühlen will.
(Eckhart Tolle hat diesen Mechanismus gut beschrieben.)

Und was macht die Umgebung? Sie ist genauso hilflos. Sie kann diesen Schmerz auch nicht wirklich fühlen und übt sich in, was Ken Wilber treffend ausdrückt, idiotischem Mitgefühl.

Das heisst, die Umgebung nimmt ihm jetzt nicht etwa den Welpen weg, eine ethisch richtige Handlung, die nötig wäre, um das Tier zu schützen und diesen Mann auch, um offensichtliches, durch diese heillose Überforderungssituation sich persistierendes Leid zu mindern, sondern unterstützt ihn nun mit verharmlosenden und betäubenden Aussagen wie: Seine Frau wird schon zu dem Kleinen schauen. Man darf sich jetzt nicht in sein Leben einmischen. Ihm diesen kleinen herzigen Welpen wegzunehmen, würde ihm das Herz brechen.

Aber das Gegenteil von Gut ist nicht Böse, sondern gut gemeint.

Tucholsky

Und genau das beschreibt idiotisches Mitgefühl. Wir fühlen nicht wirklich das Leben, unsere Gefühle, die Gefühle der andern, sondern geben vor, wir würden, indem wir eine Vorstellung vor und über das Leben stellen.

Nun ist aber nicht die Vorstellung das Problem, sondern das Problem ist die unbewusste Identifikation mit der Vorstellung und der damit einhergehende Kontaktverlust mit dem Leben und dem Fühlen.

Zum Beispiel die Aussage, die jemand in einem Kommentar in diesem Blog geschrieben hat: Es gibt so viele arme Hunde im Tierheim, deshalb ist es doch unverantwortlich noch weitere Hunde zu züchten.

Der erste Teil des Satzes ist eine mehr oder weniger überprüfbare Tatsache. Es stimmt, es gibt viele Tierheimhunde, die auch oft schlecht gehalten werden. Der andere Teil hingegen ist eine Vorstellung, mit der man identifiziert ist, und die über das Erleben gestülpt wird, und zwar, um es zu vermeiden.

Das Erleben wäre: Der Schmerz darüber, dass es so viele Tierheimhunde hat, die in schlechten Verhältnissen leben, und die mit diesem emotionalen Schmerz einhergehenden starken primären Gefühlen, wie Angst, Wut, Trauer, Ohnmacht etc. Dieser Schmerz und die Gefühle werden in dem Moment aber nicht wirklich gefühlt und erlebt. Das Erleben des Schmerzes wird vermieden, unterdrückt und marginalisiert, und mit einer moralischen es sollte-Vorstellung ersetzt, die niemals wahr sein kann, da sie keinen Boden unter den Füssen hat und keinen Kontakt mit der Wahrheit des Augenblicks, der Sinneswelt besitzt.

Der nicht gefühlte Schmerz und die ausgegrenzten Gefühle werden dann, natürlich unbewusst, entweder nach Innen oder nach Aussen projiziert, quasi weggegeben. Nach Innen, zum Beispiel, wenn ich jetzt meinem inneren Wunsch folgen würde, Hunde zu züchten, dann würde ich mich schlecht fühlen und von schlechtem Gewissen geplagt. Nach Aussen als Moral: All diese unverantwortlichen Menschen, die immer noch Welpen auf die Welt vermehren, obschon es so viele Tierheimhunde hat!

Anstelle des Erlebens - Erleben meines Leids, das mich dann verbinden könnte mit dem Leid all dieser vielen fühlenden Wesen auf diesem Planeten, echtes Mitgefühl wecken und zu ethisch sinnvollen Handeln führen - tritt die Vierte Welt, die Welt des Verstandes, des Denkens, der Vorstellungen, der Meinungen, der Kognitionen, der Moral, der Verbote und Gebote, der Regeln.

Und ohne es zu merken, leben wir in der Welt der Neurose, in dieser Mind-Made-Welt, in der Welt des Junk-Foods, des Trockenfutters, der Kartonnahrung, die nicht wirklich nährt, und die dann auch plötzlich mal fürchterlich Feuer fangen kann, was man dann etikettiernd Burnout nennt.

Moral ist ein Symptom dieses Kontaktverlust zum eigenen Selbst. In Büchners Woyzeck gibts diese treffende Definition:

Moral ist, wenn man moralisch ist.

Das beschreibt präzise dieses Mindfucking, dieses ständig wiederholende Kreisen der Gedanken (im Focusing nennt man das strukturgebundenes Erleben) der vierten Welt,
das unsere Kultur so grandios kultiviert: Schlechtes Gewissen, Schuldgefühle, wenn- und hätte ich doch-Sätze, Vergleiche mit den Anderen, all diese Selbstquälereispiele, mit denen die Selbstzerfleischung und Selbstzerhirnung auf exzellente Höchstleistung getrieben wird.

Das kann dann gegen Innen bös abgehen, nicht nur in ein Burnout, sondern direkt in den Hades einer abgrundtiefen Depression oder zu Selbstverletzungen, starker Sucht oder sogar Suizid führen. Oder noch böser nach Aussen: Wieviel Leid und Krieg sind doch aus solchen, ursprünglich gut gemeinten Vorstellungen entstanden! (Kommunismus, Übermensch der Nazis, Heilige Kriege etc.)

Da das Leben mittels einer moralischen Vorstellung nicht abgeholt wird, d.h. nicht bewusst erlebt und begleitet werden kann, kann auch kein nächster guter Schritt passieren. Das Erleben bleibt stecken und bildet neurotisch stinkende Pfützen ausserhalb des Lebensflusses.

Würde der Schmerz gefühlt und sinnhaft verbunden mit dem eigenen Schmerz von früher vielleicht, wo man sich auch wie ein armer Tierheimhund ausgegrenzt, verlassen und verwahrlost erlebt hat, dann könnte aus diesem Erleben ein nächster Schritt kommen, der einem sagt, was gut ist, quasi ein ethisch abgestimmter Schritt:

Das könnte durchaus die Wahl eines Tierheimhundes sein, das könnte aber auch all dieser Aufwand sein, den wir jetzt hier auf uns genommen haben, um dieses wunderbare Mysterium der Hundegeburt hautnah zu erleben.

Mit anderen Worten: Wir müssen den sauren Apfel vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen wirklich ganz zerkauen und runterschlucken. Die Dualistische Sicht des Verstandes auf die Welt muss vollständig durchschaut und verdaut werden.

Bedingung dazu ist das mit dem Aussen verknüpfte beharrliche Nach-Innen-Schauen. Dabei stösst man unweigerlich zuerst auf das, was man weggelebt hat, auf die vergrabenen Hunde, die Leichen im Keller und die Armen Seelen. Das zu sehen und zu erleben und dann diese Teile langsam zu befreien und ans Tageslicht des Bewusstseins zu holen, tut schrecklich weh, ist eine Ohrfeige nach der anderen, wie jemand einmal Selbsterkenntnis definiert hat. Doch durch diese jahrelange Knochenarbeit kann es dann plötzlich passieren, dass das Ganze des Lebens als bedingungsloses Wunder des Sowohl-als-Auch gesehen wird. Und man erlebt sich glücklich wandernd durch die Ewigen Jagdgründe. Und es war nie anders. Und es wird nie anders sein.

Dostojewski hat das schön beschrieben:

Alles ist gut...Alles. Der Mensch ist unglücklich, weil er nicht weiss, dass er glücklich ist. Nur deshalb! Das ist alles, alles! Wer das erkennt, der wird gleich glücklich sein, sofort, im selben Augenblick....

Zurück zum Beispiel des alten Mannes, der sich den Welpen gekauft hat, obschon er dessen Bedürfnissen nicht gerecht werden kann.

Man könnte sagen. Er sieht den Hund nicht als Hund. Er sieht in ihm seine Sehnsucht, eine Schmerzlinderung, ein Mittel seinen inneren Mangel zu stopfen, ein Mittel sich das Jungsein weiterhin vorzugaukeln, ein Betäubungsmittel. Was der Hund braucht, kann er nicht mehr sehen, deshalb wird hier der Hund grob missbraucht. Man könnte das auch so formulieren, dass dieser alte Mann innerlich überflutet wird von zu vielen Emotionen, die von seine verdrängten Geistern ausgesandt werden. Die emotionale Welt bricht allmählich in seine Persönlichkeit ein und führt zu einem mehr oder weniger starken Realitätsverlust.

Seine nahe Umgebung kompensiert co-abhängig seine Einseitigleit mit der Haltung: Ein Hund ist ein Hund. Nur ein Hund. Und weil ein Hund nur ein Tier ist, kein wertvoller Mensch, wie zum Beispiel mein eigenes Kind, ist es doch nicht so schlimm, wenn der Welpe jetzt dem armen alten Mann hilft in seinen letzten Lebenstagen noch etwas glücklich zu sein und dabei halt etwas leidet, schliesslich leiden noch viele andere Tiere auf diesem Planeten, und die letzte verbürgte Hundschlachtung in Deutschland fand 1986 in Augsburg statt. (Siehe: Michael Grewe Hunde brauchen klare Grenzen)

Diese materialistische Haltung ist zutiefst anthropozentrisch. Sie ist eine Schutzhaltung. Ich kultivierte sie früher auch, denn sie ist so bequem. Sie baut eine eiserne Festung ums Herz. Eisenhans wird eingesperrt, die Wolfsfrau verbannt. Sie schützt vor dem Fühlen des Schmerzes. So fand ich es früher, auch wenn ich es nicht immer sagte, lächerlich und vermenschlicht, wenn Leute lang und heftig wegen ihrem toten Hund oder ihrer toten Katze trauerten.

Einmal hatte ich in der statinoären Therapie der Klinik eine Patientin, deren Katze schwer erkrankt war. Daheim wollte aber niemand wirklich Verantwortung übernehmen. Ihr Mann wollte sie sofort einschläfern lassen, ihr Sohn weigerte sich. Als mir die Patientin das erzählte, verstand ich plötzlich, dass die Katze die Patientin rief, sich um sie zu kümmern, und sie mit Bewusstheit in den Tod zu begleiten. Die Katze wollte der Frau das Sterben zeigen. Die Frau verweigerte auch das Sterben eines Teils von sich und war deshalb in einer Depression erstarrt, genauso wie der Mann und der Sohn daheim einen nächsten Schritt blockierten. Die Frau ging heim, ging mit der Katze zum Tierarzt und erlebte das Sterben ihrer Katze. Und ich erkannte meine arrogante Haltung von eine Katze ist eine Katze. Das war für mich der Beginn meine anthropozentische und egozentrische Ansicht Tieren gegenüber ins Gesicht zu schauen. Ich erinnerte mich, dass ich als Kind Tiere über alles liebte und ursprünglich Tierarzt werden wollte. Der nächste integrative Schritt war dann das Auftauchen von Kaya in mein Leben.

Beide Haltungen dem Hund gegenüber sind deshalb falsch, weil sie einseitig sind. Sie zeigen nicht tiefer. Sie bleiben getrennt. Sie bauen keine Brücke, sie haben keinen gemeinsamen Boden (felt sense im Focusing). Sie erreichen deshalb nicht die Vielseitigkeit des Ganzen. Sie berühren nicht den Grund der Wahrheit und führen unweigerlich zu Verwirrung und Moral - dem hilflosen Versuch des Verstandes, wieder Klarheit in die Verwirrung zu bringen - und zu Leidanfälligkeit, die in jeder Monokultur implizit angelegt ist.

Wenn der Hund sowohl als Hund, als auch nicht als Hund gesehen werden kann, dann wird er zum Psychopompos, zum Seelenfüher, zum Vermittler und Botschafter zwischen den Welten, wie du es jetzt erfährst mit Ayscha, der Lebendigen im Traum. Der Hund hilft dir klar zu bleiben, luzid im Hinblick auf die Welt, in der du dich grad aufhälst, und du kannst die Aggregatzustände deines Bewusstseins leichter wechseln. Dein Hund zeigt dir wie kein anderes Wesen die Wahrheit des Augenblicks, er gibt dir das Wahre und du nimmst das Wahre von ihm, du nimmst durch ihn wahr und du weisst, dass es reine Energieverschwendung ist, dich dermassen in den Vorstellungen zu drehen und der Moral zu verfallen, stattdessen opferst du deinen Verstand, verlierst ihn einwenig und wendest dich wieder deinem inneren Erleben zu, den Gefühlen, den Körperempfindungen, dem Felt Sense, dem Happy Hunting Ground deines Körpers.

Das Bewusstsein der Ewigen Jagdgründe ist ein Bewusstsein des Todes, des Verfalls, der Nichtigkeit, der Vergänglichkeit, der Leere von allem. Das Fleisch konfrontiert uns damit, das Rohfleisch, die Verwesung, Maden. Wenn du deinen Hund mit Rohfleisch fütterst, dann kommst du in Kontakt mit dem, und es kann durchaus passieren, wie uns hier oben auf der Alp, dass du Maden begegnst. Es ist eine Art Leichenfeldbetrachtung im Alltag.

So schaut dich deinHund schaut morgens an und erinnert dich an dein Körperdasein, daran, dass deine blossen Füsse in Wirklichkeit nicht in Schuhen sondern auf dem Boden der Ewigen Jagdgründe stehen.

Und wenn du bereit bist, ihm wirklich in die Augen zu schauen, seinen unbegreiflichen Blick, den du nie verstehen wirst, auszuhalten mit deinen eigenen neugierigen von den Nachtträumen gewaschenen Augen...

Und wenn du zudem das Glück hast, einen guten Hund zu haben, einen, der noch stark verwurzelt ist in den Ewigen Jagdgründen, einen instinktsicheren, noch nicht qualverzüchteten und veroperierten...

...dann erinnert er dich an die Ewigen Jagdgründe als Grund von allem Leben, und wölfischböse wird er dir nicht gehorchen, so wie Ayscha in deinem Traum; er wird zu deinem eigenen Doppelgänger, deinem inneren Verbündeten, deinem Seelenzwilling; zum Daimon, der als Dämon und Symptom dein Leben durcheinanderbringt, um dich an den Weg zu erinnern; er wird zum Engel, mit dem du ringen musst, um den Segen des Lebens zu erhalten; er stört dich; er jagt, wenn er nicht sollte, und sogar, wenn er einer Rasse angehört, der das angeblich weggezüchtet worden ist; er haut ab und streunt; er reisst dir die Leine aus der Hand, damit sie brennt, und du dich um deine Hand und dein Handeln kümmerst; er pöbelt andere an, um dich daran zu erinnern, dass wir Gefühle haben; er arrangiert Konflikte mit andern Hundebesitzern und sogar mit Hundehassern, damit wir miteinander reden; er mischt den Bodensatz unserer Gefühle zum Chaos auf - Chaos wunderlicher Sohn, der er ist - um uns zu erinnern, dass wir fühlende Wesen sind und uns um unsere Gefühle kümmern und diese achtsam und liebevoll wie Welpen behandeln. Warum? Weil wir leben, weil wir auch unbegreifliches, fühlendes Leben sind, genauso wie er, aber im Unterschied zu ihm, darüber reden und schreiben können.

Zum Schluss möchte ich Dir noch ganz besonders danken für diese schöne Metapher des Mönchs, der in der Klausur die heilige Schrift abschreibt und die Buchstaben verziert. Ich bin mir sicher, dass du diese Metapher mit Ayscha in den Ewigen Jagdgründen erjagt hast.:-)

Denn genau so ist mein Bloggen hier in der Welpenklausur! Die Hunde halten meinen Blick gegen Innen, und ich bin in gutem Kontakt mit meiner Innenwelt. Zudem ist dieser Ort mit der Lichtung zwar kein Kloster, aber doch wie ein Zentrum der Stille und Abgeschiedenheit in der Natur.

Und etwa vor einem Monat habe ich den Satz hingeschrieben, dass meine Aufgabe in diesem Blog ist, die Geschichten, die das Leben schreibt, abzuschreiben.

Und jetzt weiss ich, dass ich die Grossbuchstaben mit den Fotos, den Geschichten und Gedichten und den Bildern verziere.

Herzlich

Martin

* Was ich aber als unethisch ablehne, ist die Haltung des Wolfes in der Gefangenschaft und die im Moment der Hirnmodellmode so beliebte kognitive Verhaltenstherapie mit all diesen Experimenten. Aus dem simplen Grund, weil der Lebensraum das Verhalten diktiert, und das ganz besonders beim Wolf. Der Wolf ist nur Wolf mit seinem Jagdgrund. Sobald dieser verändert wird: Gehegehaltung, keine Möglichkeit zu Jagen oder gar das brutale Wegnehmen der Jungen aus dem Bau, um sie auf den Menschen zu prägen, wird das Wesen des Wolfes stark verfälscht.
Die Erkenntnisse, die diese Tierexperimente bringen, lohnen den Aufwand und den Schmerz der Tiere nicht. Für mich ist das auch keine Wissenschaft mit Tiefe, sondern eine oberflächliche Flachlandwissenschaft; sie bringt der Seele so wenig wie Junkfood dem Körper.

Bild: Ruhen bei der Sphinx Gouache auf Papier, 1992

1 Comment

  1. Lieber Martin
    Ich bin schlicht überwältigt von deiner Antwort. Und freue mich auch sehr. Aber ich muss sie wohl noch ein paar Mal lesen! Im Moment kann ich dir nur herzlich danken. Auch für deinen Hinweis auf die Bedeutung von Ayschas Namen. Wir haben ja Ayscha mit 10 Wochen einer sympatischen Familie abgegeben. Diese Familie hat ihr den Namen Ayscha gegeben. Als sie uns dann mit 18 Wochen aus verschiedenen Gründen zurückgegeben wurde, haben wir den Namen beibehalten, ohne uns um seine Bedeutung zu kümmern. «Die Lebendige»: Wie schön!
    Noch einen friedlichen Abend
    Catherine

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