Unser Hund, dieser Wirklichkeitsbegleiter

Fujifilm X-T2,  XF 35 F2 (55mm KB)

Die Fähigkeit eines Hundes, ganz er selbst zu sein, ist die gleiche Fähigkeit wie die einer Mohnblume, die ihre im Frühsommer fast durchsichtigen Kelchblätter über dem haarigen Stiel hervortreibt, und sei es aus einer winzigen Spalte im Gehsteigpflaster. Die Kulturwissenschaftlerin Hildegard Kurt nennt solche Momente, in denen es uns gelingt, mit unseren Bedürfnissen in Kontakt zu treten, nicht mit dem, was von uns verlangt wird und was wir dann gehorsam selbst von uns verlangen, „Blühphänomen“. Wenn es uns gelingt, echt zu sein, blühen wir, und sei dieses Echtsein ein Echtsein im Schmerz. Auch der Schmerz, die echte Trauer, die echte Wehmut sind Blüten, weil sie uns real sein lassen.

Unser Hund, dieser Wirklichkeitsbegleiter, der nicht anders kann und nicht anders will, als ganz echt zu sein, ist für uns somit beständig Blüte. Er oder sie erinnert uns daran, dass wir auch blühen können: Jedes Mal, wenn er uns begrüßt, wenn er über etwas, das wir teilen, beglückt ist, wenn er gedankenlos zum Playbow mit wedelndem Schweif und nach vorn gedrücktem Oberkörper ansetzt, ist das eine Aufforderung zum Blühen.

Das Geheimnis der „tiergestützten Therapie“ besteht darin, uns Menschen zu erinnern, dass wir blühen können, das heißt, dass wir echt sein können, dass es ein Fühlen in uns gibt, das weiß, was uns lebendig macht und was nicht, wenn wir es uns nur gestatten, uns damit zu verbinden. Wenn wir das Gefühl haben, dass uns ein Tier respektiert, dann ist es in Wahrheit das: Es erlaubt uns zu blühen, weil wir sein dürfen. Und umgekehrt gilt: Wenn wir unser Tier respektieren, dann erlauben wir ihm das Blühen.

Respekt kann nur etwas Gegenseitiges sein. Respekt kann nur die Anerkenntnis der Echtheit des Anderen sein: Das Ihn-sein-Lassen, das dazu führt, dass er sein kann und sein darf. Erziehung wäre dann nichts anderes als das: zum Sein einzuladen. Und diese Einladung auszusprechen, heißt zu wünschen, dass der andere blühe. Wie sehr haben wir uns diese Einladung immer wieder von anderen Menschen gewünscht. Und allzu oft sprechen sie das Gegenteil aus, durch zusammengepresste Lippen, durch Geschrei, durch Verweis auf die Hausordnung: Sei nicht!

Sowohl Hunde als auch Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis, den Anderen Raum zu lassen und deren Wohlergehen zu fordern. Wir sind zutiefst soziale Wesen. Wir sind zahm, und das heißt: Wir haben eine Intuition dafür, dass das Blühen des Anderen eine Voraussetzung des eigenen ist. Respekt lehren heißt unter einer solchen Perspektive allein, Stopp zu sagen, wenn die eigenen vitalen Bedürfnisse verletzt werden. Und das ist nichts anderes, als eben auch sich selbst das Sein zu erlauben.

Darin besteht, wie alle wissen, die das schon einmal versucht haben, die ganz hohe Schule. Uns allen fällt es etwas leichter, sie zu absolvieren, wenn wir einen Vierbeiner an unserer Seite haben. Der Hund ruft uns zu: Sei! Sei, wie ich auch sein kann! Sei, gemeinsam mit mir!

von ANDREAS WEBER, Biologe, Philosoph und Autor. Er lebt mit Pudelmischling Erbse als bester Freundin zusammen. Derzeit schreibt Weber an seinem neuen Buch, „Sein und Teilen“, das im März 2017 im Verlag transcript erscheint.

aus: DOGS Heft 6 / 2016 RESPEKT!

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