Geburt und Tod

Kaya und Mika laufen voraus, und ich stolpere hinterher, das ist so mit Hunden und ganz besonders mit Huskys, daran gewöhnt man sich mit der Zeit. Sie sind elegante Läufer und sie haben „The Will to Go“.
Und so ergeht es mir auch mit diesem Blog: das Leben geht mir voraus, und ich stolpere hinterher, über das Schneefeld, über das meine Hunde so anmutig schnüren, und über das weisse Blatt mit meinem humpelnden Bloggen des Erlebten.

Denn das Ereignis, das ich im Warten-Blog angedeutet hab, ist bereits vorgestern eingetreten:

Kaya hat nach einer unruhigen Nacht am Donnerstag 9.4.15 morgens 9:19 den ersten Welpen gewölft. Begleitet von ein paar kurzen schrecklichen Schmerzensschreien der Hündin flutschte der Kleine in die Welt. Er kriegte von meiner Freundin, die das Recht hatte, die Rüden zu benennen, den Namen „Tikaani“, was auf Indianisch „Wolf“ heisst. (Foto oben).
Das war der Startschuss. Bis 15:00 marschierten 7 wilde Heilige in einer Art wuchtiger Parade der Grossen Mutter Natur in die Welt. Die Unterweltphantasie im Hintergrund meines Hirns hat das ganze mit dem Lied „Oh when the saints go marching in...“ kommentiert, das mir den ganzen Tag mit aktiver Repeattaste durch den Kopf leierte, allerdings in der leicht abgeänderten Form von „Oh when the saints go marching out...“.
Angeblich sei meine Mutter, als ihr die Vorwehen meinen eigenen Start ins Leben ankündigten, zur Krönungsmesse von Mozart um den grossen runden Esstisch getourt. So kam ich als Einsamer auf die Welt (zudem als Zangengeburt) und wurde, kaum konnte ich denken, mit der bleischweren Krone des Egos gekrönt, wohingegen diese 7 Welpen so selbstverständlich und leichterhand in die Welt glitten wie die Geste einer Hand beim Abzählen über eine Gebetskette.
Nur der letzte wollte nicht so recht, wobei er vermutlich allzu draufgängerisch kopfvoran losschoss (vielleicht wollte er im letzten Moment verhindern, der letzte zu sein), dadurch zu hoch zielte und von innen mit der Schnauze gegen Kayas After geriet; sein Kopf bog sich nach oben und der Ausgang war blockiert. (Man sagte mir später: Das könne auch Menschlingen passieren, die sinnigerweise Sterngucker genannt würden.) Er fiel dann plötzlich - als wir gerade den Tierarzt telefonisch um Rat fragten und Kaya vor Schmerzen gekrümmt daneben stand - in der bläulichen Fruchtblase wie ein jäh abstürzender Luftballon auf das Riemenparkett; dort kriegte er den Namen „Ely“, was „berühmter Krieger“ auf hebräisch heissen soll.
Kaya hat alles wunderbar gemacht, ganz ihrer mythologischen Urahnin der Wölfin „Mamma Lupa“ zu Ehren, die Romulus und Remus rettete. Trotz dem veränderten Bewusstseinzustand, in dem sie sich - dem verkifften Blick nach zu urteilen - die ganze Zeit über befand, oder vielleicht grad wegen diesem, lief diese beeindruckende Fortsetzungsordnung wie am Schnürchen ab: Es wurde gewölft, die Nachgeburt aufgefressen, die Fruchtblase verschlungen, die Nabelschnur getrennt und mit der Zunge massiert, jeder neue Ankömmling wurde gleicherart nur noch etwas selbstverständlicher empfangen.
Und uns hat Kaya kraftvoll vor Augen geführt, welch starke Mutter- und Gebärkraft in diesen (noch nicht verzüchteten) Hundewesen steckt. Verständlich, wenn diese früher von uns Menschen im Wolf als Fruchtbarkeitskgöttinnen verehrt wurden und noch heute vom Christlich-Patriarchalen Bewusstsein im bösen Beutegreifer Wolf bekämpft werden müssen.
Ich dagegen war innerlich furchtbar aufgeregt, gepackt von diesem grossartigen Geburtssturm, tobte in meinen Hirn die Urneurose meiner Lebensangst, die sich als Sorge an die Oberfläche presste, es könnte sich in diese vertrauensvoll ablaufende Fortsetzungsordnung jetzt dann grad ein Fehler einschleichen, etwas schief gehen und schlimm werden. Als Ely festsass, sah ich uns schon mit dem Auto ins Tierspital rasen, wo ein Kaiserschnitt zwar vielleicht das Leben der Mutterhündin retten würde, aber das Heilige des Prozesses unweigerlich zerfetzen.
Wir waren noch am Abzählen, Auseinanderhalten und Namengeben der Perlen, als ich eine Mail von meinem Vater erhielt, worin er mir mitteilte, dass an diesem Morgen Tina, die 13 Jahre alte Jagdhündin meiner Eltern, an einem asthmatischen Anfall gestorben sei.

Mit Nachdruck gaben sich an diesem Tag Geburt und Tod die Hand zum Tanz des Lebens. Die Hunde fordern uns Menschen auf, mitzutanzen, und den Tod endlich anzuerkennen als die andere Seite der Geburt und als Ausdrucks des Lebens.

Gestern, nachdem die Aufregung von vorgestern sich etwas gelegt hatte und eine begierig saugende Ruhe in der Wurfkiste einzog, habe ich mit Mika wieder mal einen Stadtrundgang unternommen. So übt der erst 9 Monate alte, bereits sehr selbstsichere Rüde (ist ja schliesslich jetzt stolzer Vater von 5 Jungs und 2 Mädels!) mit viel Geduld seines Herrn sich zu Benehmen gegenüber anderen angeleinten Hunden, oder Kindern mit Glace an den Fingern, oder Frauen mit Handtaschen verlockenden Inhaltes... Als wir in der Nähe des Bahnhofes bei Grün über einen Fussgängerstreifen liefen, musste ein Auto jäh bremsen, weil der Fahrer von rechts wohl den Fussgängervortritt übersehen hatte.
Der kleine Schreck gebar in mir sofort einen Wunsch zu meinem eigenen irgendwann eintretenden Tod. Falls er plötzlich, zum Beispiel durch ein mich rasch erfassendes Autos geschehen sollte, dann wünscht ich mir, mein letztes Wort heisse nicht „Scheisse“ oder „Shit“, aber auch nicht "Gott" oder „Oh Gott“ (wie bei Gandhi, als ihn die Kugel erwischte), sondern ganz schlicht „Ok“.

Und die Frage, die mir jetzt noch bleibt, ist: Kann ich das Üben?

Das grosse Warten

Jetzt sind wir am Warten. Wir haben alles sorgfältig vorbereitet, alles ist eingerichtet, so gut, wie wir es in unserer neugierigen Unerfahrenheit uns vorstellen können.
Ich liege - an der Wand angelehnt und mit einem grossen türkisen Kissen gepolstert - auf dem Doppelbett, das wir am Ostersonntag ins zweite Zimmer rüberverschoben haben.
Meine Freundin haushaltet, das heisst sie hängt grad die frisch gewaschenen Kleidungsstücke über den kleinen Wäscheständer. Zur umsichtigen Vorbereitung gehörte auch, dass wir die Waschkarte auf einen satten dreistelligen Betrag aufladen liessen, denn in den nächsten Tagen soll die Waschmaschine im Keller, die von der ganzen Hausgemeinschaft der vier Stockwerkwohnungen benutzt wird, hauptsächlich für uns hart und fleissig arbeiten.
Derart sorgfältig vorbereitet zu warten hat was Schönes, so ganz ähnlich wie das Wetter draussen: es wandert, von einer kalten Brise noch etwas gebremst, unweigerlich einem schönen blauen Frühling entgegen.
Das Warten hat mir endlich den inneren Raum freigegeben, mit diesem ersten Blogeintrag zu beginnen. Die Domain konnte ich mit Hilfe eines guten alten Freundes, der sich damit auskennt, schon Ende März eröffnen; und vor drei Tagen gelang es mir trotz einigen technischen Widrigkeiten, das erste Foto raufzuladen.
Es zeigt Kaya und Mika, unsere beiden Siberian Husky-Mischlinge, wie sie durch den frischen Schnee spuren.
Ich liebe dieses Bild, da mir darin unsere beiden Hunde vorführen wie auch wir Menschen durch das Leben gehen könnten. Wir könnten nämlich auch achtsam bebenden Schrittes durch das leere Blatt des Nichtwissens wandern, durch das gedanklich unfassbare Mysterium, das wir Leben nennen, so als gäbe es nur den nächsten Schritt doch noch keinen Weg.
Das weisse leere Papier ist eine Metapher, die mich seit Jahren begleitet; und in den letzten Jahren hat sich diese schöne Metapher in meiner Psyche fast schon eingefleischt.
Aus jedem offen und direkt erlebten Augenblick folgt unweigerlich ein nächster kleiner Schritt, ein nächster leichter Atemzug, ein nächster zuckender Gedanke, eine nächste huschende Empfindung, ein nächster überraschender Impuls, eine Handlung, Entdeckung, Erkenntnis, Einsicht.
Diese unschätzbare Würde, die im Erleben des ursprünglichen Augenblicks zu finden ist, erkenne ich zunehmend leidenschaftlicher, natürlicher und gelassener, je älter ich werde. Vielleicht heisst das Weisheit, die mit den Falten im Gesicht nun langsam auch in die Psyche einzieht. Diese Einsicht zieht mich dann jedesmal zurück, zurück aus dem neureichen Land meiner Vorstellungen, vollgestopft mit all den angesammelten Erwartungen, dem kontrollierenden Planen und Sorgen, dieser grandiosen Welt mit den exzellenten Zielen in meinem Kopf, in die mich die Angst vor dem Schmerz des direkten Erleben immer neu verführt und verirrt.
Die Hunde erinnern mich daran, diesem Schritt in den Augenblick zu vertrauen in einem Leben, das trotz allem zutiefst ein Nichts, eine Leere, ein Nichtwissen, ein Wunder und Mysterium bleibt, unberechenbar höllisch und unbegreiflich paradiesisch zugleich.
Im Grunde genommen ist diese Welt der Gedanken und Vorstellungen - ich nenne sie die vierte Welt - etwas ganz Grandioses und Geniales, etwas das uns Menschen über Jahrtausende wohl hauptsächlich durch eine ausgeprägte Grosshirntwicklung erschaffen wurde und auf die wir mit Recht sehr stolz sein dürfen. Ich werde diese vierte Welt weiterhin sehr wertschätzen. Doch gerade weil sie so hochentwickelt ist, wirkt sie auch so verführerisch ausgrenzend. Sie kann uns derart elegant einnehmen, dass wir vergessen, dass gleichzeitig andere Welten da sind, direkter wahrnehmbare, näherliegende, offensichtlichere wie zum Beispiel die leisen Schritte meiner Hunde durch den frischen Schnee, die ich jetzt zu höre wähne, wenn ich das Bild betrachte.
Und dieses Lauschen erinnert mich wieder daran, dass meine Freundin und ich grad in einem weiten Warten sind auf das baldige Ereignis, auf das wir uns so umsichtig vorbereitet haben und das mich veranlasst hat, mit diesem Blog zu starten. Und dieses Erinnern wiederum öffnet mir den Blick auf das Schnee-Feld, auf den Hintergrund, auf das weisse Papier hinter den Buchstaben und Wörtern, auf die nackte Leinwand hinter den Filmfiguren. Und ich realisiere erneut, wie aus diesem leeren Hintergrund heraus die Lehrrede der Hunde spricht...