Das SELBST

Es war etwa sechs Wochen bevor ich Madurai für immer verließ, als sich die große Wandlung in meinem Leben ereignete. Das geschah ganz plötzlich. Eines Tages saß ich allein im ersten Stock des Hauses meines Onkels. Ich war wie immer gesund. Ich war selten krank. Ich schlief aber ungewöhnlich tief. ... So war also an diesem Tag, als ich alleine in dem Zimmer war, mit meiner Gesundheit alles in Ordnung. Dennoch überkam mich eine plötzliche und unmissverständliche Todesfurcht. Ich spürte, dass ich sterben musste. Kein körperliches Empfinden war dafür die Ursache. Ich konnte es mir damals selbst nicht erklären, warum ich so fühlte. Ich bemühte mich jedoch erst gar nicht herauszufinden, ob die Angst überhaupt begründet war. Ich spürte einfach: ‚Ich sterbe jetzt‘. Sofort fing ich an, darüber nachzudenken, was ich nun tun sollte. Weder Ärzte noch Erwachsene, ja nicht einmal Freunde wollte ich um Rat fragen. Ich spürte, dass ich das Problem selbst lösen musste, hier und jetzt.

Der Schock der Todesangst bewirkte, dass sich meine Aufmerksamkeit sofort nach innen wandte. Ich sagte zu mir im Geist: ‚Jetzt ist der Tod gekommen. Was bedeutet das? Was ist es, das stirbt? Dieser Körper stirbt.‘ Sofort spielte ich die Todesszene. Ich streckte meine Glieder aus und hielt sie steif, als hätte die Totenstarre eingesetzt. Um meine weitere Untersuchung möglichst realistisch zu machen, spielte ich eine Leiche. Ich hielt den Atem an und presste die Lippen fest zusammen, sodass ihnen kein Laut entweichen konnte. Weder das Wort ‚ich‘ noch irgendein anderes Wort sollte gesagt werden! ‚Nun gut‘, sagte ich zu mir, ‚dieser Körper ist tot. Er wird steif zum Verbrennungsplatz getragen. Dort wird er verbrannt, und von ihm bleibt nur Asche übrig. Aber bin auch „ich“ mit dem Tod des Körpers gestorben? Ist dieser Körper „ich“? Dieser Körper ist still und unbeweglich, aber unabhängig von ihm spüre ich die ganze Kraft meiner Person und sogar den Klang „ich“ in mir.  Also bin „ich“ Geist, etwas, das den Körper transzendiert. Der materielle Körper stirbt, aber der ihn transzendierende Geist kann vom Tod nicht berührt werden. Deshalb bin ich unsterblicher Geist.‘

All dies war kein rein intellektueller Prozess, sondern traf mich wie ein Blitz als lebendige Wahrheit und war etwas, das ich sofort und fast ohne eine Begründung erkannte. ‚Ich‘ war etwas Wirkliches, in dem Zustand das einzig Wirkliche überhaupt, und die gesamte bewusste Aktivität, die mit meinem Körper verbunden war, war jetzt daraufhin konzentriert. Von diesem Zeitpunkt an hielt eine machtvolle Faszination meine gesammelte Aufmerksamkeit am ‚Ich‘ oder meinem Selbst fest. Die Todesangst war ein für alle Mal verschwunden. Das Verschmolzensein im Selbst hat von diesem Moment an bis heute fortbestanden. Andere Gedanken mögen kommen und gehen wie die verschiedenen Noten bei einem Musiker, aber das Selbst besteht fort wie die Grundnote, die alle anderen Noten begleitet und sich mit ihnen vermischt. Mag der Körper mit Sprechen, Lesen oder etwas anderem beschäftigt sein, ich bin immer auf das Selbst konzentriert

Sri Ramana Maharshi

Aus: Gabriele Ebert Ramana Maharshi: Die gesammelten Werke

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