Der göttliche Schizophrene

Mit dem Erwachen des konstanten Bewusstseins wird man so etwas wie ein göttlicher Schizophrener, erfährt man, populär ausgedrückt, eine »Bewusstseinsspaltung«, weil man Zugang zum Zeugen und zum Ich hat. In Wirklichkeit handelt es sich um eine »Bewusstseinsvereinigung«, aber es hört sich an wie eine Spaltung, weil man sich einerseits des konstanten Zeugen oder Geistes in einem bewusst ist, andererseits aber auch des Films des Lebens, des Egos und aller seiner Höhen und Tiefen. Man fühlt nach wie vor Schmerz, Leid und Trauer, aber sie können einen nicht mehr von ihrer Bedeutsamkeit überzeugen - man ist nicht mehr Opfer des Lebens, sondern dessen Zeuge.
Es ist sogar so, dass man sich auf seine Gefühle viel intensiver einlassen kann, weil man keine Angst mehr vor ihnen hat. Der Film des Lebens wird lebhafter und bunter, weil man ihm weder nachjagt noch ihn vermeidet und nicht mehr versucht, ihn zu »verbessern«. Man dreht die Lautstärke nicht mehr zurück. Es kann sogar sein, dass man heftiger weint, lauter lacht, höher springt. Wunschloses Gewahren bedeutet nicht, dass man seine Gefühle aufgibt; es bedeutet im Gegenteil, dass man bis in die tiefsten Tiefen der Unendlichkeit fühlt und lacht und weint und liebt, bis es wehtut. Das Leben springt geradewegs aus der Leinwand heraus, und man ist ganz eins mit ihm, weil man nicht mehr vor ihm zurückschreckt.
Wenn man einen Traum hat und glaubt, dass er Wirklichkeit sei, kann dies sehr beängstigend werden. Nehmen wir an, man träumt, dass man auf einem Drahtseil über die Niagarafälle geht. Wenn man abstürzt, bedeutet dies den sicheren Tod. Man geht also sehr langsam und vorsichtig. Nehmen wir nun an, dass man luzide träumt und weiß, dass es nur ein Traum ist. Wie verhält man sich dann? Geht man noch vorsichtiger und langsamer? Nein, man beginnt vielmehr, auf dem Seil zu hüpfen, man macht Saltos, springt umher, man amüsiert sich, weil man weiß, dass es nicht wirklich ist. Wenn man erkannt hat, dass es ein Traum ist, kann man es sich leisten, zu spielen.
Dasselbe geschieht, wenn man erkennt, dass das gewöhnliche Leben nur ein Traum ist, nur ein Film, ein Spiel. Man wird nicht vorsichtiger, ängstlicher, zurückhaltender. Man beginnt, umherzuhüpfen und Saltos zu machen, weil man weiß, dass es ein Traum ist, dass es reine Leerheit ist. Man fühlt sich nicht weniger, sondern mehr - weil man es sich leisten kann. Man hat keine Angst mehr vor dem Tod und deshalb auch nicht mehr vor dem Leben. Man wird radikal und wild, intensiv und lebendig, schockierend und töricht. Man lässt alles über sich ergehen, weil alles der eigene Traum ist.
Das Leben gewinnt dann seine wahre Intensität, seine lebhafte Luminosität, seine radikale Glut. Schmerz ist schmerzlicher und Glück ist glücklicher, Freude ist freudiger und Trauer ist noch trauriger. Alles wird im Spiegel-Geist strahlend lebendig, dem Geist, der nichts erstrebt und nichts vermeidet, sondern einfach Zeuge des Spiels ist und es sich daher leisten kann, als Beobachter selbst zu spielen.
Wo könnte noch eine Motivation entspringen, wenn man alles als den Traum des eigenen höchsten Selbst sieht? Wovon könnte man in dieser spielerischen Traumwelt noch bewegt werden? Alles im Traum ist auf einer sehr tiefen Ebene letztlich nur Spaß, mit einer Ausnahme: Wenn man sieht, wie Freunde leiden, weil sie den Traum für Wirklichkeit halten, dann möchte man ihr Leiden lindern, dann möchte man, dass auch sie erwachen. Sie leiden zu sehen ist kein Spaß. Deshalb entsteht im Herzen des Erwachten ein tiefes und heftiges Mitgefühl, und er sieht es als seine wichtigste Aufgabe an, andere zu erwecken, um sie von der Trauer und dem Bedauern, der Qual und dem Schmerz, dem Schrecken und der Furcht zu befreien, die dadurch entstehen, dass man den dummen Traum des Lebens so furchtbar ernst nimmt.
Man ist ein göttlicher Schizophrener, man hat eine »Bewusstseinsspaltung« in dem Sinne, dass man mit dem reinen Zeugen und der Welt des Ich-Films gleichermaßen Kontakt hat. In Wirklichkeit bedeutet dies aber, dass man sein Bewusstsein ganz gemacht hat, weil diese beiden Welten in Wirklichkeit nicht-zwei sind. Das Ich ist nur der Traum des Zeugen, der Film, den der Zeuge aus seiner eigenen unendlichen Fülle einfach deshalb er-zeugt, damit er sich etwas im Kino anschauen kann.
An diesem Punkt entsteht das ganze Spiel innerhalb des eigenen konstanten Bewusstseins. Es gibt kein Innen und kein Außen, kein Hier und kein Dort. Das nichtduale Universum des Einen Geschmacks entsteht als spontane Geste der eigenen wahren Natur. Man kann die Sonne schmecken und den Mond verschlucken, und Jahrhunderte passen in die eigene Handfläche. Das reine Ich-Ich, die große Ich-bin-heit atmet in die Unendlichkeit und erschafft einen Kosmos als das Lied seines Selbst, und Ozeane des Mitgefühls rinnen als Tränen vom eigenen ursprünglichen Antlitz.

Ken Wilber Einfach DAS

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