Der Wolf könnte uns dabei helfen.

Ely ist heute 8

Der amerikanische Umwelthistoriker William Cronon hat das Naturbild des urbanen Menschen von heute kritisiert: dieser wünsche sich unberührte, ursprüngliche Wildnis, die, mitsamt der Tiere, die sie bewohnen, zum Gegenpol eines modernen Lebens werde, das seine Unschuld sowieso unrettbar verloren hat. Ein historischer, autonomer Ort, den wir gelegentlich aufsuchen, um uns reinzuwaschen vom Sündenfall der Zivilisation, den wir selbst verursacht haben. Eine bequeme Haltung, findet Cronon, die den Menschen letztlich der Pflicht enthebt, Verantwortung da zu übernehmen, wo die Zerstörung der Umwelt ihren Anfang nimmt: im eigenen Alltag. Er verlangt, sich von dem Dualismus zu trennen, der Natur- und Kulturraum, natürlich und unnatürlich, pur und vom Menschen befleckt einander unvereinbar gegenüberstellt; weil diese Illusion von Wildnis sie nicht retten, sondern noch mehr beschädigen wird. Auch entlegene Naturreservate sind inzwischen von Fürsorge und Management des Menschen abhängig. Und viel öfter findet sich Natur genau da, wo der einer Idee reiner Wildnis anhängende Mensch sie unbeachtet lässt: in einem Kontinuum aus vom Menschen genutzten und naturbelassenen Räumen. Anstatt jeden Gebrauch von vornherein als Missbrauch zu deklarieren, schreibt Cronon, müssen wir einen Mittelweg finden, müssen rücksichtsvolles Nutzen und Nicht-Nutzen in Balance bringen - und die Natur in unserer Reichweite schätzen lernen. Denn sie ist es, die wir bewahren müssen.

Der Wolf wirkt wie ein Botschafter dieser Mahnung. Indem er unseren Lebensraum auch zu seinem erklärt, verlangt er uns genau so einen Mittelweg ab. Wald, Felder, Stausee, Autobahnbrücke: Die Punkte auf Ilka Reinhardts Computer verteilen sich über Menschenorte, die, wie die Wege des Rudels zeigen, zugleich Wolfsorte sind. Wieder unterläuft der Wolf die Trennung in Zivilisation und Wildnis, doch was ihm einmal zum Verhängnis wurde, eröffnet im 21. Jahrhundert Möglichkeiten. Denn der Wolf hat das Zeug, unseren Blick zu verändern. Er kann zeigen, dass das Erlebnis des Anderen, des Staunens, das wir uns von scheinbar unberührter Natur erhoffen, auch ganz in der Nähe zu haben ist. Es passiert etwas mit einer Landschaft, in der Wölfe leben. Ihre unsichtbare Anwesenheit ist wie eine leise Melodie, die die Stimmung verändert. Indem sie ihre Fremdheit und Ungreifbarkeit in den Wald unserer Spaziergänge tragen, machen sie aus ihm einen reicheren, geheimnisvolleren Ort. Einen, der den Menschen spüren lässt, dass hier eine größere Ordnung gilt als die, die er zu seinem Vorteil geschaffen hat; eine, die ihn vom Zentrum an den Rand rückt. Es sieht so aus, als müssten wir dieses Gefühl öfter zulassen, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Der Wolf könnte uns dabei helfen.

Petra Ahne Wölfe: Ein Portrait

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert