Attilio Profeti lauschte friedlich dem erstickten Gurgeln. Das Röcheln eines Sterbenden – sein eigenes. Es ist ihm gleichgültig, fern. Seit Jahren sind seine Gedanken wie die Scherben eines Basreliefs, das gerade bei archäologischen Grabungen entdeckt wird; hier ein Finger, da die Raffung eines Umhangs, dort ein Akanthusblatt. Antike Bruchstücke, anhand derer man unmöglich erkennen kann, was ein Wesen ist, was bloße Dekoration. Doch gerade beschert ihm ein letzter Blutstrom im Gehirn eine vollständige Erinnerung.
Er war neun Jahre alt. Viola war mit ihm zur Beerdigung seiner Großmutter mütterlicherseits gegangen. Attilio hatte nicht sehr an der alten Frau gehangen, die in einem Dorf voller Mücken wohnte und die er nur selten gesehen hatte. Vorsichtig trat er an den offenen Sarg, wo sie mit auf der Brust gefalteten Händen lag. Er sah sie an. Ihre Gesichtshaut hing am Kinn herab, schlaff und gelb wie die Kehllappen eines Suppenhuhns. Die Nasenlöcher, durch die keine Luft mehr strömte, waren bedrohliche schwarze Höhlen. War sie schon als Lebende nicht schön gewesen, so war sie nun geradezu hässlich.
»Warum ist sie gestorben?«, fragte er Viola.
»Weil sie alt war«, gab sie zurück. »Und weil wir früher oder später alle sterben müssen.«
Damals hatte Attilio seiner Mutter kein Versprechen abgenommen, sondern sich selbst, ein für alle Mal. Drei Wörter hallten durch seinen Kopf, mit der unbedingten Kraft des Absoluten: »Alle, außer mir.«
Der Klang des Röchelns schreckt Anita auf, die weinend neben dem Bett steht. Attilio hingegen lässt sich davon einlullen.
In dem Moment, bevor er stirbt, streift ihn fern eine Frage.
Wer denn, alle?
Francesca Melandri Alle, ausser mir